Aufarbeitung des WM-Desasters Heißer Herbst für Löw - Bierhoff sieht keine „Entfremdung“
München (dpa) - Die zentrale Personalie ist mit der Fortsetzung der Ära Joachim Löw geklärt, die Veränderungen dagegen sind offen.
Welche Fußball-Nationalspieler dürfen nach dem größtmöglichen WM-Unfall auch die Aufräumarbeiten angehen? Welche Helfer schart der Bundestrainer neu um sich? Nähert sich die Nationalmannschaft wieder mehr den Fans? Die großen Antworten erfordern Zeit, auch wenn die Sportliche Leitung Ansatzpunkte kennt. „Man hat schon grobe Gedanken und weiß Dinge, bei denen man ansetzen will“, erklärte Teammanager Oliver Bierhoff.
Klar scheint: Eine Revolution gibt es nicht. Das verdeutlichte Bierhoff nach ersten intensiven Gesprächen, die er zu Wochenbeginn mit Löw an dessen Wohnsitz in Freiburg führte. „Die Leistung auf dem Platz hat halt nicht gepasst, daran müssen wir ansetzen“, lautete die Kernbotschaft des Managers nach der Sitzung mit der WM-Delegation um Präsident Reinhard Grindel in der Frankfurter DFB-Zentrale, bei der Löw im Amt bestätigt wurde.
„Mit ganzem Einsatz“ will der vertraglich bis zur nächsten WM 2022 in Katar gebundene Chefcoach den Neuaufbau gestalten. Löw versprach, „die richtigen Schlüsse“ aus dem Sturz vom WM-Thron auf den letzten Platz in einer Gruppe mit Mittelklasseteams wie Mexiko, Südkorea und WM-Viertelfinalist Schweden zu ziehen. „Das alles braucht Zeit“, soll aber vor den nächsten Länderspielen im September abgeschlossen sein.
Löw und Bierhoff ging es in der ersten Reaktionsphase vor allem darum, Kampfkraft und Entschlossenheit für das erwartete Comeback des viermaligen Weltmeisters und dreimaligen Europameisters Deutschland in der Weltspitze zu vermitteln. Rücktrittsgedanken gab es laut Bierhoff nur direkt in der Nacht nach dem 0:2 gegen Südkorea.
„Ich habe bei Jogi und bei mir schon am nächsten Tag die Energie gespürt, dass wir das so nicht beenden können, dass wir noch was zu sagen haben, dass wir auch bereit sind, den neuen Weg zu gehen“, sagte Bierhoff. Der 50-Jährige versicherte: „Die Energie ist da - und der Wille!“ Das alleine wird jedoch nicht ausreichen, um allein den heißen Herbst in der Nations League erfolgreich zu bestehen.
In dem neuen Wettbewerb warten Frankreich und Erzrivale Niederlande als Gegner in der Gruppe A. Als Gruppenerster würde Deutschland im Juni 2019 mit den drei anderen Gruppensiegern der A-Staffel bei einem Turnier den ersten Titelgewinner der Nationenliga ausspielen. Als Dritter hinter Frankreich und Holland würde das Löw-Team jedoch in Liga B absteigen.
Es steht also gleich am 6. September in München gegen die starken Franzosen viel auf dem Spiel. Für erste personelle und strukturelle Maßnahmen bleibt nicht viel Zeit. „Die Ursachenforschung beginnt ja schon. Natürlich hat man schon während des Turniers gewisse Dinge beobachtet, auch direkt danach“, sagte Bierhoff. Welche Weltmeister sind über den Zenit hinaus? Welche Spieler, die in Russland fehlten, bekommen eine neue Chance?
Das könnten etwa Jungstar Leroy Sané (22) oder 2014-Held Mario Götze (26) sein. Serge Gnabry (22) will sich beim FC Bayern aufdrängen, der Augsburger Philipp Max (24) könnte auch mal in Löws Blickfeld rücken. Das Leistungsprinzip muss wieder über Verdienste gestellt werden.
„Man hinterfragt alles. Das muss jetzt strukturiert und analysiert werden“, sagte Bierhoff. Aber natürlich sei eine Woche nach dem WM-Aus nichts spruchreif. „Das wäre unseriös. Das muss gut durchdacht sein. Das muss gut vorbereitet sein. Man muss Gespräche führen mit Spielern, mit Mitarbeitern und zum richtigen Zeitpunkt, der vor den Länderspielen im September ist, das kommunizieren.“
Löw dürfte mit zahlreichen Akteuren reden, an der Spitze Kapitän Manuel Neuer. Der 32 Jahre alte Bayern-Torwart hatte noch in Russland angekündigt, beim Neuaufbau dabei sein zu wollen. Nun will Neuer „gemeinsam“ mit Löw „wieder zu unserer Stärke finden“.
Nicht nur Löw und Neuer, auch Bierhoff sind weiterhin von der Klasse eines Teams überzeugt, das in Russland das Potenzial in keinem Spiel abrufen konnte. „Letztendlich haben wir einfach schlecht und nicht erfolgreich gespielt, Chancen nicht genutzt und hinten zuviel zugelassen“, lautete die erste Schnellanalyse des Managers.
Bierhoff versicherte, dass Löw und er nach wie vor ein eingeschworenes Team bilden. Der Manager wehrt sich auch gegen Vorhaltungen, das Raumschiff Nationalmannschaft habe sich zu weit von der Basis, den Fans, entfernt. „Die WM bringt auch weitere Themen mit, die wir angehen müssen, die wir diskutieren müssen. Das ist vollkommen klar“, sagte Bierhoff.
Viele Dinge würden aber aus dem Zusammenhang gerissen. „Da wird auch von Entfremdung gesprochen. Aber wir haben hohe Einschaltquoten im Fernsehen, wir haben großes Interesse. Man sieht an der Emotionalität, an den Reaktionen, dass die Bindung da ist.“ Veränderung ja, Revolution nein! Am hilfreichsten aber wird das sein, was im Fußball stets Priorität hat: Erfolg auf dem Rasen.