Analyse Die Lage der Handball-Nationalmannschaft 78 Tage vor WM-Beginn
Mit dem Duell in Wetzlar gegen Israel beginnt die heiße WM-Phase für die deutsche Mannschaft. Aber wie ist eigentlich die Stimmung in der Handball-Nationalmannschaft?
Wetzlar Sektkorken haben nicht geknallt. Aber die Erleichterung dürfte am Montag beim Deutschen Handball-Bund (DHB) groß gewesen sein. Das leidige Thema TV-Vertrag konnte abgehakt werden. Die Heim-WM im Januar ist bei ARD und ZDF zu sehen – zumindest die deutschen Partien.
Das ist für die Außenwirkung der Sportart ein wichtiger Schritt, zumal die Rechte für die Weltmeisterschaften bis 2025 und für die Europameisterschaften bis 2024 an die beiden Sender gingen. Weil auch der Ticketverkauf für das Großereignis zumindest in Berlin und Köln sehr zufriedenstellend läuft, sind die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Turnier gesteckt. Jetzt muss nur noch die Nationalmannschaft Leistung abliefern.
Am Montag traf sich die DHB-Auswahl in Wetzlar, wo sie am Mittwoch (19 Uhr/ Livestream im Internet auf zdfsport.de) in der ausverkauften Rittal-Arena im ersten Qualifikationsspiel für die EM 2020 auf Israel trifft. 78 Tage vor dem WM-Auftakt gegen das gemeinsame Team aus Korea hat Bundestrainer Christian Prokop die „heiße Phase“ eingeläutet. Dieser Sieben-Tage-Lehrgang, der am Sonntag mit der Partie im Kosovo abgeschlossen wird, soll dem Chefcoach wichtige Aufschlüsse im Hinblick auf die WM geben. Noch gibt es einige Baustellen beim Europameister von 2016.
VERLETZUNGEN
Daran muss sich jeder Bundestrainer gewöhnen. Personelle Rückschläge sind in diesem eng getakteten Sport unvermeidlich. In Wetzlar steht nur einer von vier Linkshändern zur Verfügung. Und das ist auch noch der Unerfahrenste. Nämlich der Leipziger Franz Semper. Kai Häfner kämpft sich nach einer Bauchmuskelverletzung gerade wieder zurück ins Team der TSV Hannover-Burgdorf. Fabian Wiede (Füchse Berlin), der schon die EM 2018 verpasst hatte, und Steffen Weinhold (THW Kiel) werden in schöner Regelmäßigkeit von Verletzungen zurückgeworfen. So auch jetzt. Angesichts des prallen Terminkalenders der deutschen Spitzenclubs muss Prokop mit solchen Rückschlägen stets rechnen. „Wir drücken alle die Daumen, dass die drei in diesem Jahr noch aufs Parkett zurückkehren, um bis zur WM wieder ihr Leistungsniveau zu erreichen“, hofft Prokop.
SPIELMACHER
Es ist eine alte Leier. Im deutschen Handball fehlt schon seit Jahren ein echter Spielgestalter. „Ich habe mir wegen Rückraum Mitte lange den Kopf zerbrochen“, gesteht Prokop. Am Ende dieser Gedankenspiele stand die Rückholaktion von Martin Strobel. Der Balinger hatte nach dem EM-Triumph 2016 im Nationalteam pausiert. Jetzt kehrt er zurück. „Wenn so ein Ereignis wie die Heim-WM im Januar ansteht, dann muss man nicht lange überlegen. Das ist für jeden Sportler das Größte“, begründet Strobel seine Entscheidung gegenüber der dpa. Der 32-Jährige, der seit Sommer 2017 mit seinem Club nur noch in der 2. Liga spielt, verkörpert am ehesten das, was sich der Bundestrainer wünscht. Nämlich einen, der das Spiel steuert. „Martin ist ein taktisch intelligenter Spieler, ein starker Charakter. Er ist hundertprozentig fit und besitzt eine tolle Schnelligkeit und Athletik“, begründet Prokop das Comeback des 135-fachen Nationalspielers. Nicht jeder verstand diesen Schritt. Der Bundestrainer sagt am Dienstag aber unmissverständlich: „Das ist eine Nominierung mit Weitsicht.“ Und: „Es gab keine andere Alternative.“
KADER
Das Aufgebot für diese ersten beiden Pflichtspiele der Saison ist richtungsweisend. „Ein Fingerzeig“, nennt es Prokop. Denn im Hinblick auf die WM gibt es nur noch eine Zusammenkunft des Nationalteams Mitte Dezember, ehe rund um den Jahreswechsel die unmittelbare Vorbereitung auf das Turnier beginnt.
Die Botschaft des Bundestrainers ist klar. Wer in Wetzlar mit dabei ist, hat gute Chancen, auch für die Weltmeisterschaft nominiert zu werden. Umgekehrt heißt das aber auch: Die, die nun fehlen, müssen damit rechnen, auch im Januar außen vor zu sein. Bei einem Spieler wirft das Fragen aus. Steffen Fäth taucht nicht an alter Wirkungsstätte auf. Nicht etwa, weil er verletzt ist, sondern, weil Prokop auf Halblinks derzeit Julius Kühn und Fabian Böhm vorne sieht. Über Fäth, der sich bei den Rhein-Neckar Löwen rasch gut zurechtgefunden hat, möchte Prokop am Dienstag nicht reden, sondern lobt vielmehr die anderen. „Julius Kühn wird bei der WM ganz wichtig für uns werden“, sagt der 39-Jährige, „Böhm verkörpert die Komplettheit“.
Es ist kein Geheimnis, dass sich Prokop mit dem Spieler Fäth schon lange schwertut. Bei der EM in Kroatien ließ der Coach den Ex-Wetzlarer anfangs links liegen, auch zuvor saß der Frankfurter – wenn er im Kader stand – zumeist auf der Bank.
Prokop hat allen möglichen WM-Kandidaten schon vor Monaten schriftlich Aufgaben gegeben, an denen sie gemessen werden. Es gab zudem regionale Trainingstage, bei denen sich der Coach ein Bild von seinen Schützlingen gemacht hat. In Summe hat ihn Fäth nicht überzeugt. Das gleiche gilt für Philipp Weber, der vor der EM 2018 noch als großer Hoffnungsträger auf der Spielmacherposition gehandelt wurde, mittlerweile aber keine Rolle mehr spielt. Was bei ihm aber auch daran liegt, dass er sich seit Wochen im Leistungsloch befindet. Noch ist die Tür für alle möglichen WM-Fahrer nicht zu. Durch gute Leistungen in der Liga kann sich jeder anbieten. Aber Prokop stellt am Dienstag auch klar: „Ich möchte kein Casting bis in den Januar haben.“
ERKENNTNISSE
Die Deutschen treffen vor der Weltmeisterschaft in der EM-Quali auf Israel und den Kosovo, ehe noch drei Testspiele folgen: Polen, Tschechien und Argentinien. Das sind alles keine Gegner aus der Top-Kategorie. Seit dem EM-Fiasko im Januar gab es im Grunde nur einen echten Gradmesser. Und das war die mit 25:30 verloren gegangene Partie im Juni zu Hause gegen den Vize-Weltmeister Norwegen. Die Frage ist also, wie groß der Erkenntnisgewinn in den kommenden Partien für Prokop tatsächlich ist. Ob er in diesen Begegnungen, die allesamt gewonnen werden müssen, für sich herausfindet, tatsächlich auch die Spieler nominiert zu haben, die in den entscheidenden Partien im Januar dann auch Flagge zeigen. Wenn die Gegner in der Vorrunde Frankreich und in der Hauptrunde Spanien und Kroatien heißen.
STIMMUNG
Bei der EM in Kroatien rumorte es zwischen Trainer und Spielern. Mittlerweile sollen alle Ungereimtheiten ausgeräumt sein. Doch hält der Frieden? „Die Stimmung ist gut“, erklärt Prokop am Dienstag und betont: „Wir können viel erreichen. Aber nur als Team, als taktisch-diszipliniert und emotional spielende Mannschaft.“ Ob das klappt, wird sich in Ansätzen auch schon gegen Israel zeigen.