Kritik an Politik und Sport nach Doping-Studie
Berlin (dpa) - Der deutsche Fußball wurde für seine Mauertaktik kritisiert, Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und DOSB-Präsident Thomas Bach mussten sich sogar Vorwürfe der Verschleppung und Verwirrungsstrategie gefallen lassen.
Am Tag nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts über die Doping-Praktiken in der Bundesrepublik wurden die Diskussionen über Konsequenzen immer hitziger. Forderungen nach Namensnennung, einem Anti-Doping-Gesetz und strafrechtlicher Aufklärung wurden laut. Der Deutsche Fußball-Bund sah sich gezwungen, erneut erhobene Anschuldigungen über Ephedrin-Doping von Nationalspielern bei der WM 1966 zurückzuweisen.
Die Ankündigung des Deutschen Olympischen Sportbundes, eine unabhängige Kommission unter Vorsitz des Ex-Bundesverfassungsrichters Udo Steiner einzusetzen, verschafft Friedrich und Bach erstmal Zeit. Mit Empfehlungen der Steiner-Gruppe ist vor 2014 nicht zu rechnen. So kann sich Friedrich auf die Bundestagswahl konzentrieren - und Bach auf den Endspurt im Sechskampf um den IOC-Thron. Negativfolgen erwartet Bach nicht: „Meine IOC-Kollegen wissen, dass ich die Studie selbst initiiert habe. Ihnen ist meine Null-Toleranz-Politik gegen Doping seit Jahrzehnten bekannt, insbesondere auch als Vorsitzender der verschiedenen Disziplinarkommissionen. Deshalb befürchte ich keine Konsequenzen für den Wahlkampf.“
Politik und Sport müssen sich viele Fragen gefallen lassen. Wer waren die Profiteure des staatlich geduldeten und steuerfinanzierten Dopings in der Bundesrepublik, wer die Opfer? Welche Strippenzieher sind noch heute wo im Amt? Was fehlt in dem Abschlussbericht? Nach dpa-Informationen ist er mehrere Hundert Seiten kürzer und enthält weniger Namen als der bereits im März 2012 fertiggestellte Zwischenbericht der Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute“.
„Es müssen Ross und Reiter genannt werden“, verlangte Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, am Dienstag in München und mahnte die Veröffentlichung der zurückgehaltenen Langfassung der Studie an. Nur so könne auch der nun aufgekommene „Generalverdacht“ gegen bundesdeutsche Athleten ausgeräumt werden.
Die lange unter Verschluss gehaltene Studie verdeutlichte, dass die Geschichte des Dopings in der Bundesrepublik bereits 1949 begonnen hatte. Es müsse geprüft werden, „ob bundesdeutsche Trainer oder Funktionäre für Doping-Vergehen in der Vergangenheit zur Rechenschaft“ gezogen werden müssen, so Ex-Turn-Weltmeister Eberhard Gienger, bis 2010 DOSB-Vize Leistungssport. Dabei müssten unbedingt die Gesetzestexte der damaligen Zeit berücksichtigt werden. „Vieles, was heute verboten ist, war in den 70er Jahren noch erlaubt.“
Ephedrin stand schon vor mehr als 40 Jahren auf der Liste der verbotenen Substanzen. Das Stimulanzmittel hat laut der Studie auch im deutschen WM-Team 1966 eine Rolle gespielt. Ein Schreiben des früheren FIFA-Funktionärs Mihailo Andrejevic belege, „dass drei deutschen Fußballern am Ende des Turniers 'feine Spuren' Ephedrin nachgewiesen wurden“. Dabei habe es sich „sportrechtlich um Dopingvergehen“ gehandelt, heißt es in dem vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) geförderten Forschungsprojekt der Berliner Humboldt Universität, die mit der Westfälischen Universität in Münster die westdeutschen Doping-Praktiken untersucht hat.
Uwe Seeler, der damalige Kapitän der WM-Mannschaft wies die Vorwürfe zurück. „Ich halte von Doping gar nichts. Ich habe auch nicht gedopt, ich kenne auch keinen, der gedopt hat“, sagte der 76-jährige Hamburger am Dienstag bei der Feier zum 50. Geburtstag der Fußball-Bundesliga in Berlin. „Ich höre das auch. Wenn, dann muss man Namen nennen, die das gemacht haben“, forderte Seeler.
Der Weltverband FIFA hatte bei der WM 1966 erstmals bei einem Endrunde Dopingkontrollen durchgeführt. Die FIFA habe damals „keinen der genannten Spieler wegen Dopings verurteilt oder gesperrt“, betonte DFB-Vize Rainer Koch. Er widersprach der Darstellung der Wissenschaftler aus Münster, der DFB habe einen Archiv-Zugang nur zu „letztlich inakzeptablen Auflagen“ gewährt. Der DFB habe „durch einen juristischen Beistand plötzlich Forderungen“ an das Projekt gestellt, die dem wissenschaftlichen Standard widersprochen und gegen den Vertrag mit dem Projekt-Auftraggeber BISp verstoßen hätten, monierten zudem die Forscher aus Berlin. Dadurch sei ein Besuch des DFB-Archivs nicht zustande gekommen.
Der DFB habe zweimal Grünes Licht gegeben, sagte dagegen Koch. „Das Archiv stand den Forschern offen. Die Behauptung, wir hätten die Anfrage abgelehnt, ist also falsch“, sagte Koch, aber natürlich sei die Öffnung mit geltenden Datenschutzauflagen verknüpft worden.
Obwohl in dem Bericht viele alte Fakten wiederholt wurden, lassen die Erkenntnisse wenig Interpretationsspielraum zu: Ausgiebige Forschungen über die Wirkungsweise von Blutdoping seit Beginn der 80er-Jahre, Tests an Radsportlern und Hockey-Spielern mit dem Kälberblutmittel Actovegin - auch der renommierte Doping-Fahnder Manfred Donike geriet ins Zwielicht. Der verstorbene, ehemalige Leiter des Kölner Instituts für Biochemie soll vor Olympia 1984 bei Absicherungskontrollen im deutschen Team zurate gezogen worden sein.
Doping-Experte Werner Franke machte sich für eine strafrechtliche Aufklärung des westdeutschen Dopingprogramms stark. Wie schon bei den Prozessen gegen Verantwortliche des DDR-Dopingprogramms müssten auch die Hintermänner in Westdeutschland wegen Körperverletzung vor Gericht. „Wieso wurde etwas bestraft bei DDR-Tätern, aber nicht bei west- oder gesamtdeutschen Tätern?“, fragte er im Nordwestradio. Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) bekräftigte ihre Forderung nach einem umfassenden Anti-Doping-Gesetz. Es sei an der Zeit, „ein Doping-Strafrecht zu schaffen, das seinen Namen verdient“.
DLV-Boss Prokop zeigte sich überrascht, dass schon seit Ende der 40er-Jahre nicht nur in der Leichtathletik, sondern auch im Fußball, im Rudern und in anderen Sportarten gedopt worden sein soll: „Was mich schockiert hat, war, dass offenkundig mit staatlichen Geldern geforscht wurde. Und dass offenkundig viele Verantwortliche im Sport Bescheid wussten.“ Die Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, Dagmar Freitag. schimpfte in hr-iNFO, die veröffentlichte Minimalversion des Berichts werfe mehr Fragen auf als sie Antworten gebe. Vermutlich interessante Namen seien geschwärzt worden. Dass offiziell datenschutzrechtliche Gründe angeführt werden, hält sie für abwegig. „Diese Argumentation hat man sich ja auch nicht bei der Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen zu eigen gemacht“, sagte die SPD-Politikerin. Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, verurteilte Friedrichs Rolle: „Minister Friedrich verhindert die Aufklärung und versucht die Wahrheit über staatliches Doping zu vertuschen.“
Ex-Spitzensportlerin Heidi Schüller erhob unterdessen Vorwürfe gegen Bach. „Thomas Bach muss mehr gewusst haben, als er jetzt zugibt. Er kann doch auch lesen“, sagte Schüller der Münchner „tz“. „Aber wenn man IOC-Präsident werden will, dann schweigt man besser.“ Die frühere Weitspringerin Schüller hatte 1972 bei den Spielen in München den olympischen Eid gesprochen. Bach will am 10. September in Buenos Aires neunter Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) werden und geht als klarer Favorit auf die Zielgerade.