Analyse: Fast 100 Prozent für eine ungeliebte Koalition
Berlin (dpa) - Unionsfraktionschef Volker Kauder wippt mit den Beinen. Kanzlerin Angela Merkel checkt verstohlen Mitteilungen auf ihrem Handy. Ministerpräsident Volker Bouffier geht in Gedanken seine Strategie für Schwarz-Grün in Hessen durch - der Rückflug um 15.45 Uhr sitzt ihm im Nacken.
Nur vier Stunden sind am Montag in Berlin beim Kleinen Parteitag für die Abstimmung über den Koalitionsvertrag mit der SPD angesetzt.
Die Parteiführung wirkt gehetzt. Für sie ist alles klar mit der großen Koalition. Und bereits nach drei Stunden und vier Minuten fährt sie dann auch ein einmütiges Ja der Delegierten ein. Doch begeistert wirkt keiner. Für viele ist das Bündnis mit der SPD ein notwendiges Übel zur Regierungsbildung.
Karl-Josef Laumann vom CDU-Arbeitnehmerflügel betont, die SPD bleibe der größte politische Gegner. „Das Zusammengehen mit den Sozis hat immer ein Geschmäckle.“ Er wirbt für die große Koalition - „für eine bestimmte Zeit“. Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder betont, man werde weiter Kontakt zu FDP und Grünen halten.
Merkel trauert offen Schwarz-Gelb nach und erklärt zugleich, Union und Grüne seien in den Sondierungsgesprächen intensiv zueinandergekommen. Bouffiers schwarz-grüne Regierungsbildung findet sie „nicht schlecht“.
Doch dann wirbt Merkel 44 Minuten lang für die große Koalition. Drei Punkte stellt sie heraus: Solide Finanzen, sichere Beschäftigung und sozialer Wohlstand. Sie hebt das CDU-Nein zu Steuererhöhungen hervor, verweist auf Milliarden-Investitionen in Bildung und Forschung und Verkehrsinfrastruktur. Sie verteidigt die Kompromisse zum Mindestlohn, zur doppelten Staatsbürgerschaft und der Rente ab 63 und betont die Einschränkungen, die die Union dabei durchgesetzt hat.
Wie nebenbei schildert sie ihre Stärke und Macht in der Union. 7,7 Prozentpunkte hätten CDU und CSU seit der Wahl 2009 hinzugewonnen. „Das ist der höchste Stimmenzuwachs einer Partei, den es seit 1953 gegeben hat“, sagt die amtierende Kanzlerin. Und: „Wir sind in allen gesellschaftlichen Gruppen die stärkste Kraft mit Ausnahme der Arbeitslosen.“
Es sei gelungen, die Union nicht nur in Bayern, sondern bundesweit über 40 Prozent zu bekommen. Vor allem ist es wohl ihr gelungen, die die Union weit in die Mitte der Gesellschaft gerückt hat. Aber das sagt sie nicht.
Sie erklärt die Kompromisse mit der SPD für tragbar und verspricht große Leistungen der großen Koalition. Dieser Diktion folgen 165 von 167 Delegierten der CDU. Zwei enthalten sich, darunter der Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann. Er beklagt, dass die Abschaffung der kalten Progression - durch die Arbeitnehmer nach Lohnerhöhungen wegen steigender Steuerlast netto weniger in der Tasche haben - nicht im Koalitionsvertrag steht. Und er fordert, dass die CDU ihr nächstes Wahlprogramm von einem Bundesparteitag absegnen lässt und nicht nur vom Vorstand wie bisher.
Mißfelder sieht in den schwarz-roten Beschlüssen zur Rente, darunter die Rente mit 63 bei 45 Beitragsjahren, eine Belastung der künftigen Generationen: „Ich bedauere, dass wir den Rentenkompromiss so eingegangen sind.“ Der Vorsitzende des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, wettert gegen die Verbesserungen bei der Mütterrente. Künftig sollen Mütter, die vor 1992 Kinder bekommen haben, zwei statt einen Rentenpunkt bekommen. Die anderen erhalten weiterhin drei Punkte.
Auch Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), kritisiert, dies sei der teuerste Aspekt in dem Rentenkompromiss mit der SPD. Und er weist darauf hin, von wem dies durchgesetzt wurde: von der CDU. Er spielt die Bedeutung eines Koalitionsvertrags aber herunter: „Wir sollten die Sache nicht überschätzen. Ein Koalitionsvertrag ist die Gebrauchsanweisung für die ersten 100 Tage einer Regierung.“ Die Vorsitzende der Frauenunion, Maria Böhmer, mahnt: „In allen Wahlkreisen haben wir mit diesem Thema viel Boden gutgemacht.“
Merkel sagt nach dem einmütigen Ja der CDU zur großen Koalition: „Die Arbeit liegt erst vor uns.“ Vor allem schwarz-roten Anfang liegt aber noch das Votum der 475 000 SPD-Mitglieder, die über den Koalitionsvertrag abstimmen. Im CDU-Vorstand wird auch dort mit einem klaren Ja gerechnet. Christdemokratisches Spitzenpersonal kann sich nicht vorstellen, dass die SPD-Basis Nein sagt und damit die Existenz ihrer Partei aufs Spiel setzen würde. „Dann wäre alles weg - Parteiführung, Vertrauen der Bürger, einfach alles“, sagt ein CDU- Vorstandsmitglied. Es klingt nicht nach Wunsch. Es klingt nach Sorge.