Analyse: Zurück auf Rot-Grün - Merkels Atomwende
Berlin (dpa) - Ohne das Blitzlichtgewitter könnte die Kanzlerin nun aus einem Sekunden- in einen Tiefschlaf fallen. Bis in die Morgenstunden hat Angela Merkel mit ihrer schwarz-gelben Koalition über den Atomausstieg verhandelt.
Am Ende steht das Datum 2022, so wie es SPD und Grüne schon vor Jahren beschlossen hatten - bis Union und FDP diese Entscheidung im vorigen Herbst kippten. Mit ihren Ministern Norbert Röttgen, Philipp Rösler und Peter Ramsauer bemüht sich Merkel am Montagnachmittag im Kanzleramt um die Erklärung, warum die Rolle rückwärts der Regierung historisch sein soll.
Die Kanzlerin sagt, der rot-grüne Atomausstieg hätte bis 2022 nicht verwirklicht werden können. Und: „Was vorher von niemanden geleistet wurde, ist, dass wir beschreiben können, wie wir den Weg dahin schaffen.“ Die Versorgung in Deutschland werde gesichert, Atomstrom werde nicht importiert und Energie bleibe bezahlbar.
Merkel spricht von einem schon lange bestehenden gesellschaftlichen Konsens über den Atomausstieg. Sie spricht nicht davon, dass Schwarz-Gelb erst im vorigen Jahr die Atomlaufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre bis etwa ins Jahr 2035 verlängert hatte. Sie sagt nur, die Regierung wolle nun „den Weg des Herbstes noch schneller gehen“. Sie revidiert damit ihren bisher vielleicht größten politischen Fehler.
Gegen keine andere politische Entscheidung dieser Bundesregierung gingen in Deutschland so viele Menschen auf die Straße wie gegen die Verlängerung der Atomlaufzeiten. Ein befriedeter Konflikt in der Gesellschaft brach wieder auf.
„Historisch“ ist das absehbare Ende der Atomenergie nun wohl kaum. Denn so weit war die Republik schon einmal unter Rot-Grün. Es wird aber in die Geschichte von Union und FDP eingehen, dass ausgerechnet sie als langjährige Streiter für die Atomkraft eine so beispiellose Kehrtwende vollziehen. Die Regierung will Ruhe an dieser Front.
Umweltminister Röttgen (CDU) betont, die Energiepolitik sei mehr als eine Fachfrage und gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung. Nötig sei ein „übergreifender Konsens im Land“. Die Regierung reiche dazu die Hand. Auch das „Kampfthema“ eines Endlagers für hochradioaktiven Atommüll solle nun geklärt werden. Und Merkel lässt durchblicken, dass sie weder mit den Bürgern noch mit der Wirtschaft vor den nächsten Wahlen weiter über die Energieversorgung streiten will.
Anders als im Herbst binde die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende diesmal statt der Atomlobby die Ministerpräsidenten sowie SPD und Grüne ein, zeigt sich ein CDU-Landesregierungschef erleichtert. Das liege aber nicht nur an Fukushima, sondern auch an den Wahlverlusten der CDU in den Ländern. Je weniger Ministerpräsidenten die Union habe, desto stärker achte Merkel auf die Belange der Übriggebliebenen und insgesamt auf die Sorgen der Länder. Rosige Aussichten bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin im September hat die CDU nicht.
Viele in der Koalition halten die Laufzeitverlängerung heute für einen Fehler. Doch nur wenige geben das so offen zu wie Gerda Hasselfeldt. „Wir haben das unterschätzt“, sagte die CSU-Landesgruppenvorsitzende. Merkel selbst räumt aber auch ein, etwas unterschätzt zu haben: das Restrisiko dieser gefährlichen Energie. Die Kehrtwende der Kanzlerin und Physikerin kam mit der Atomkatastrophe in Japan.
Die schwarz-gelbe Koalition will mit ihrem Konzept den rot-grünen Atomausstieg nun überholen. Intensiv wie nie zuvor werde nun der Umstieg auf erneuerbare Energien betrieben, heißt es. Und die Regierung sichert zu: Einen neuerlichen schwarzen-gelben Ausstieg aus der Atomkraft werde es nicht geben. Schriftlich wurde im Kanzleramt in der Nacht zum Montag festgehalten: Die Entscheidung werde „nicht noch einmal infrage gestellt“.
Dabei wird es nun viele finanzielle Probleme und auch wieder gesellschaftliche Konflikte geben. Denn erneuerbare Energien bedeuten Windräder, Stromtrassenbau, Biogas - also Lärm und Gestank. Hier wird die Regierung schnell Gesetze erlassen, damit sie eine bessere Handhabe für den Ausbau regenerativer Energien hat. Vielleicht hat Merkel SPD und Grüne auch deshalb zu Gesprächen ins Kanzleramt geladen. Denn dieser zu erwartende Protest vieler Bürger wird auch Rot-Grün treffen.
Schülerinnen der Maria-Ward-Mädchenschule aus Landau harren in dieser lauen Mai-Nacht lange aus vor dem Bundeskanzleramt. Sie sind auf Klassenfahrt in Berlin und wollen die Entscheidung für die Energiewende in Deutschland live verfolgen. Als die Nachricht kommt, dass bis 2022 Schluss alle Atommeiler im Land ist, jubeln die meisten Mädchen. „Ich bin für den Atomausstieg, weil das unsere Welt ist und wir noch eine Weile darin leben wollen“, sagt die 15-jährige Kathrin Fesenmeyer.