Premiere des Ohrwurm-Musicals in der Deutschen Oper am Rhein „Anatevka“: Brav und ohne Brisanz
DÜSSELDORF · Bettlaken hängen an Wäscheleinen. Hoch und runter fahren sie auf der Bühne der Deutschen Oper am Rhein und bilden wechselnde Kulissen für ein Musical, das auf jüdischen Geschichten des frühen 20. Jahrhunderts von Scholem Alejchem basiert.
„Anatevka“ heißt nicht nur das Bühnenwerk von Autor Joseph Stein und Komponist Jerry Bock, sondern auch das weißrussische Dörfchen in der Nähe der Ukraine. Am Ende des Stücks wird Anatevka von russischer Polizei aufgelöst, die Juden müssen raus und schnell noch, binnen drei Tagen, ihre Häuser verkaufen.
60 Jahre nach seiner Uraufführung am New Yorker Broadway (damals unter dem Titel „Fiddler on the Roof“) ist das Musical, mit dem auch in Deutschland Generationen groß geworden sind, mal wieder im Düsseldorfer Opernhaus herausgekommen. In einer extrem langsamen und unpolitischen Inszenierung von Felix Seiler.
Er riskiert nichts, wagt kaum ein Wort zu streichen und bringt vor lauter Panik vor möglichen Parallelen mit unserer Gegenwart eine harmlose, kreuzbrave Fassung heraus. Er erzählt die Geschichte um die Familie von Milchmann Tevje und reichert sie mit viel Edel-Folklore (Kostüme: Sarah Rolke) und zündenden Tanznummern mit acht Artisten (Choreographie: Danny Castello) an. Ähnliches gehörte schon seit den 1970er Jahren zum Repertoire vieler Stadttheater. Allerdings irritieren heute manche, langdauernde Hochzeitsszenen und Sprechpausen.
Ohne viel Dekor (Bühne: Nikolaus Webern) schildert Seiler die Stimmung im Schtetl: Die Arbeit ist hart, alle freuen sich auf den Schabbes. Sie tratschen und klatschen, auch über Heiratspläne der jungen Leute. So strömen die Dorfbewohner in feinem blauem Zwirn hinein und verwandeln die Bühne zu einer Art Festwiese. Die Solisten des Rheinopern-Chors entfachen dabei ansteckende Spielfreude und lassen reine Chor-Passagen zu einem Hörgenuss werden. Jiddische Atmosphäre atmen auch die Klänge mit Klezmer-Anklängen der geschmeidig reagierenden Symphoniker: Stilecht wirken die Sounds unter dem agilen Jung-Maestro Harry Ogg, der in den ernsten Szenen reichlich Moll-Trübungen betont und dadurch manche Rührseligkeit der Regie noch verstärkt.
Neben der Musik zum Mitsummen berührt die Story und zünden heute noch manche Archetypen jiddischer Literatur: Die betuliche Heiratsvermittlerin und Wichtigtuerin Frau Jente (überdreht gemimt von Morenike Fadayomi), der biedere, sanfte Milchmann Tevje (Andreas Bittl) und seine Frau Golde (mit spielerischem Sopran: Susan Maclean): Sie wollen drei erwachsene Kinder verheiraten, haben die Rechnung jedoch ohne die selbstbewussten Töchter gemacht, die längst ihre Wahl der Liebe getroffen haben. Während die Elterngeneration um Tevje und Golde ein Hohe Lied auf alte Werte und jahrhundertelange Tradition singt, bricht die Jugend damit und nimmt ihr Schicksal in die Hand.
Unverwüstlich sind Lieder und die Musik. Besonders wenn der gutmütige Tevje, der dem Glück seiner Töchter nicht im Wege stehen will, seinen Traum von Reichtum beschwört in „Wenn ich einmal reich wär‘“ – dann summen einige Besucher die Melodie leise mit. „Dubbi, Dubbi, dub dub“ pfeifen einige noch beim Herausgehen. Doch oh Wunder! Ausgerechnet bei diesem Ohrwurm steht mit Andreas Bittl kein Sänger, sondern ein Schauspieler auf den Brettern: Zwar gibt er überzeugend den Tevje als raubeinigen, zupackenden Milchmann, gleichzeitig als Vater mit weichem Herz für die Töchter. Doch singt er nicht, sondern säuselt mehr schlecht als recht und rettet sich in Sprechgesang. Schade! Schwer nachzuvollziehen ist, dass Opernmacher ein Musical produzieren und die Hauptrolle nicht mit einem Spielbariton besetzen. Obwohl es davon im Ensemble zahlreiche gibt. Am Ende: Viel Applaus und einige Bravorufe für Chor, Orchester und Darsteller.
Weitere Vorstellungen: 26., 29., 31. Mai, 8., 15., 18., 22., 30. Juni