Ballett am Rhein So war die Premiere von "b. 39" in Düsseldorf
Düsseldorf · Das kontrastreiche Programm "b. 39" hat Premiere in der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf gefeiert. Dazu gehört ein neues Meisterwerk von Martin Schläpfer - mit dem er sein Publikum allerdings überfordert.
Die Ballerina stemmt sich auf ihre Spitzenschuhe – Konfrontation! Ihr Partner dreht ihr den Rücken zu und hebt mit aufgefächerten Händen die Arme. Die Frau geht ab. Eine Miniatur von eloquenter Eleganz wie sie nur Altmeister Hans van Manen zuzuordnen ist. Sein Ballett „Dances with Piano“ eröffnet das neue dreiteilige Programm b. 39 des Ballett am Rhein in der Düsseldorfer Oper. Van Manens Kunst versteht sich von selbst – anders als die Uraufführungen „44 Duos“ von Ballettchef Martin Schläpfer und „Atmosphères“ seines Ex-Tänzers Martin Chaix.
Van Manens Werk von 2014, zu erleben in deutscher Erstaufführung, ist sein vorletztes. Darauf folgte wenige Monate später nur noch „Alltag“ für seinen Freund Martin Schläpfer. „Ich mache keine neuen Ballette mehr. Ich habe mehr als 120 geschaffen. Das muss genügen“, so der Niederländer im Pausengespräch. Beglückend, den weltberühmten 86-Jährigen bester Dinge beim Applaus auf der Bühne zu erleben.
Für das Ballett am Rhein legte van Manen noch einmal Hand an
„Dances with Harp“ hieß das Stück noch bei der Uraufführung mit Het Nationale Ballet in Amsterdam, inspiriert von dem Ausnahme-Harfenisten Remy van Kesteren. Für das Ballett am Rhein legte van Manen noch einmal Hand an und wählte das Klavier als Klangfarbe. Die Musikstücke, nuancenreich interpretiert von der Pianistin Schaghajegh Nosrati, ließ er teilweise transkribieren. Dazu zeichnet der Tanzschöpfer drei Paarbeziehungen scharf zu entsprechend verschieden temperierten Kompositionen von Carlos Michans, Frederic Mompou und Heitor Villa-Lobos. Sechs Persönlichkeiten, die sich virtuos tänzerisch Paroli bieten oder am Ende annähern, typisch van Manen. Seine altersweise Pointe: Nur das behutsame Paar geht gemeinsam ab. Als schmunzelnde Intermezzi zwischen den Duos, die mit ihrer choreografischen Klarheit, Raffinesse und Perfektion immer wieder faszinieren, hat er zu Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen zwei Männer-Trios eingebaut. Sie wirken allerdings aus der Zeit gefallen mit Siegerposen und Imponiergehabe.
Ganz anders, ist Schläpfers neues Stück die reinste Walpurgisnacht – in choreografischer wie modischer Hinsicht. Zu Béla Bartóks „44 Duos“ für zwei Violinen (Catherine Ribes und Dragos Manza), inspiriert von ost- und mitteleuropäischen Volksliedern und -tänzen, hat er sich eine schräge Dorfgemeinschaft ausgedacht. Eine Gesellschaft, so überdreht und schillernd wie unsere Welt. Die Beziehungen der Bewohner sind fein durchkomponiert und werden in 44 ein- bis zweiminütigen Tänzen höchst lebendig. Den musikalischen Preziosen, die eigentlich zu Übungszwecken komponiert wurden und heute zu den bedeutendsten musikpädagogischen Werken zählen, hat der Chefchoreograf sich laute und leise Momente, große und kleine Gefühlswelten ausgedacht, hinreißend in Tanz ausgedrückt von einem fantastischen Ensemble. Die französische Kostümbildnerin Hélène Vergnes hat ihm dazu eine Kollektion entworfen, die Trachten verfremdet und in die Haute Couture überzeichnet - wie eine rote Lackweste in Wickeloptik, eine abstrahierte Lederhose, ein Indianeroutfit mit helltürkisen Kugel-Schuhen oder aparte Kleider mit sich überlagernden Applikationen.
Schläpfer hat seinen Humor weiter abstrahiert und radikalisiert
Man fühlt sich erinnert an die „Appenzellertänze“ (2000), ein Frühwerk des Schweizers, als er sich schon einmal mit schrägem Witz über ländliche Traditionen ausließ – damals über die seiner Heimat. Seinen Humor hat Schläpfer weiter abstrahiert und radikalisiert. Als müsste er niemandem mehr etwas beweisen – vielleicht mit Blick schon auf Wien –, reiht er eine skurrile Idee an die nächste. Chidozie Nzerem in rotem Nikolaus-Outfit mit Kapuze tritt sehr langsam auf die Bühne, verneigt sich und geht ab. Tänzer bewegen sich wie Kobolde oder Karikaturen, ein Sportler tritt nur für ein versonnenes Tendu auf, das er voller Selbstzweifel auszuführen scheint. Ein Derwisch wirbelt über den Boden, dass sich seine silberne Pluderhose bläht. Dann wieder marschiert das Ensemble wie eine Armee ein oder tanzt munter eine Polka. Aus einer brückenartigen Formation bleibt Marcos Menha am Boden hocken – wie ein Fundstück.
Ohne Zweifel hat Schläpfer ein weiteres Meisterwerk geschaffen. Nur: Er überfordert sein Publikum. Am Ende eines fast dreistündigen Abends reicht die Konzentration nicht mehr.
Zuvor hat Martin Chaix, seit 2015 als freischaffender Choreograf unterwegs, einen düsteren, rätselhaften Kosmos heraufbeschworen. Wie Gewürm tummeln sich die Tänzer in schwarzen Trikots rastlos im Nebel zu Krzysztof Pendereckis nervöser Musik. Wie auf Zuruf halten sie inne, um schöne Formationen zu bilden. Die Frauen tippeln provokant auf Spitze, man fühlt sich in die Unterwelt griechischer Rachegöttinnen versetzt. Ein Wechsel von spannungsvollen Soli und Ensembleszenen mit geschmeidigem, schlangenartigem Partnering setzt ein. Später tragen die Tänzer Häute wie Insektenflügel am Körper. Eine Metamorphose? Transition vom Leben in den Tod? Und wozu der Frauenakt, entnommen Chaixs Fotoserie Fallen Angel, an der Rückwand? Alles entschwindet in Sphären? Zu viele Fragen.
Der Franzose, keine Frage, kann choreografieren, hört tief in die schwierigen Kompositionen von Penderecki, Ludwig van Beethoven und György Ligeti hinein, beherrscht den Rhythmus von Dramatik und Stille. Nur, was immer er zu sagen hat, es kommt nicht an.
Ein kontrastreicher Abend. Den Kopf übervoll mit Bildern, macht man sich auf den Heimweg.