Ballett: Schläpfer für Fortgeschrittene
Martin Schläpfer hat ein neues herausragendes Werk geschaffen. Für den Zuschauer ist es eine immense Herausforderung.
Düsseldorf. Verschreckt hockt die Tänzerin auf dem Boden. Sie weiß es noch nicht, aber jetzt, da sie einmal am Leben ist, muss sie es mit der ganzen Welt aufnehmen. Wird die Schönheit der Liebe genießen, das Verlassenwerden beweinen, den Tod fürchten, sich eine Religion suchen und vielleicht einen Gott finden.
Es ist die erste Szene des neuen Balletts von Martin Schläpfer, in der sogleich deutlich wird, dass der Choreograf dieses Mal an den Anfang zurückgeht. Dorthin, wo der Mensch gerade erst beginnt, Mensch zu werden, wo das Licht der Aufklärung nur so eben hineinschimmert und das sinnhafte Erleben übermächtig ist.
In seiner herausragenden Uraufführung lenkt Schläpfer unseren Blick auf ein „Deep Field“, zu dem nur durchdringt, wer keine Tiefen scheut. Der Begriff stammt aus der Astronomie und bezeichnet das Sichtbarmachen eines kleinen, weit entfernten Sternenhimmels, das 1995 als kleine Sensation gal t.
„Deep Field“ ist auch der Titel des Werks, das bei der Premiere am Freitag in der Düsseldorfer Oper gefeiert wird. Dicht, manches Mal verschlossen ist das Dargebotene. Wer sich mit der Existenzphilosophie nicht auskennt, dürfte den Gedankenflügen der beteiligten Künstler kaum folgen können. Der Abend ist eine immense Herausforderung für die Zuschauer.
Adriana Hölszky hat der Uraufführung ihren Namen gegeben, eine der mutigsten Schöpferinnen zeitgenössischer Musik. Martin Schläpfer hatte sie mit der Komposition beauftragt und fand in ihr und Künstlerin Rosalie (Bühne, Licht, Kostüme) die bestmöglichen Partnerinnen für eine Erkundung der Grundstrukturen aller Existenz.
Gemeinsam erschaffen sie den Kosmos, in dem die 48 wunderbaren Tänzer die Fragestellungen „Woher kommen wir?“ und „Wohin gehen wir?“ abbilden. Sie winden sich eben noch unruhig auf der Erde und stoßen im nächsten Moment zielsicher empor in Richtung Himmel.
Faszinierend arbeitet Schläpfers Tanzsprache das Streben nach Erkenntnis heraus. Der Choreograf potenziert die Dehnungen der Extremitäten, Drehungen und Hebefiguren um ein Vielfaches, so dass die Tänzer einen Schwebezustand zu erreichen scheinen. Augenblicke der Utopie. Sehnsucht. Die Rückkehr zur Erde ist umso erbarmungsloser. Dort erzählt ein Tänzer, einem spirituellen Lehrer gleich, die Urgeschichte der Menschheit aufs Neue — mit einem Buch in der Hand.
Die Komposition von Adriana Hölszky trägt die Brüchigkeit des Daseins in den gesamten Raum. Der WDR-Rundfunkchor wispert vom dritten Rang hinab Auszüge aus Texten Nietzsches und Hölderlins. Aus dem Graben drängen Gitarre und Akkordeon hinauf, dazu kommen Einspielungen vom Band. Ein Schnalzen und Klacken beginnt auf der Bühne wandert über die Köpfe der Zuschauer hinweg, um schließlich zu den Tänzern zurückzukehren. Da ist keine Melodie, sondern changieren vorzeitliche Klangwelten. Für manche eine Provokation. Immer wieder schauen Zuschauer sich um und versuchen zu ergründen, woher die Geräusche kommen, die sie umkreisen.
Viel Applaus gibt es am Ende, jedoch auch Buh-Rufe. Es bleiben eben doch zu viele Rätsel, zumal, wenn man sich auf den Abend nicht vorbereitet. Die Einführung könnte helfen, die Dramaturgin Anne do Paco stets eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn gibt. Wer dennoch in der Mehrdimensionalität des Geschehens verloren geht, wird von der großartigen Compagnie entschädigt. Deren Tanz ist ein klar erkennbarer Genuss.
Chreographie: vier von fünf Punkten
Klanginstallation: vier von fünf Punkten
Bühne/Licht: vier von fünf Punkten
Tanz: vier von fünf Punkten
Termine: Die Vorstellung dauert eineinviertel Stunde, keine Pause; 7.6., 19.30, 9., 15., 19.6, jeweils 18.30 Uhr.