Abhängen im Museum: Tate Britain wird chronologisch
London (dpa) - Es erinnert ein bisschen an den Wechsel zur Timeline beim Internet-Netzwerk Facebook - dort erschien plötzlich ein Zeitstrahl, der das Leben jedes Benutzers in eine chronologisch geordnete Abfolge bringt.
Während andere Museen auf der Welt bemüht sind, klassische Chronologien aufzuheben und ihre Sammlung stärker nach Themen zu ordnen, macht die Tate Britain jetzt genau das Gegenteil. In Zukunft zeigt das größte Museum für britische Kunst seine Gemälde in radikal zeitlicher Ordnung. Damit reagiere man auf die neuen Sehgewohnheiten, die die Menschen des digitalen Zeitalters entwickelt haben, sagt Chris Stephens, Chef der Präsentation bei der Tate.
Bei jedem Gang durchs Museum bestimmt die Hängung und Ordnung der Bilder mit, wie wir diese betrachten und verstehen. „Wir wollen einen neutraleren Weg bieten, die Sammlung wahrzunehmen“, erklärt Tate-Britain-Chefin Penelope Curtis. „Wir lassen die Bilder mehr für sich selber sprechen.“ Chronologie gehöre zwar seit Urzeiten zu den klassischen Präsentationsformen in Museen. Die neue Hängung der festen Ausstellung in der Tate Britain aber sei noch deutlich radikaler, weil sie eben völlig neutral sei.
Der Rundgang präsentiert rund 500 Bilder und Skulpturen britischer Künstler vom 16. Jahrhundert bis heute strikt nach Entstehungsdatum. Es findet so gut wie keine Ordnung nach Schulen, Einflüssen oder Themen statt. Zudem gibt es nur wenige Texttafeln, die Infos über den historischen Kontext liefern. Ziel dabei ist es, dem Museumsbesucher so viel Freiheit wie möglich zu geben, die Bilder weit ab von akademisch festgelegten Kategorien anzuschauen.
„Es gibt derzeit eine Bewegung weg vom Kurator als Autor“, meint Stephens. „In unserem digitalen Zeitalter kuratieren die Menschen ihr Leben selber.“ Genau das wolle man auch für die Kunst möglich machen. „Wir wollen nicht mehr sagen: In diesem Raum geht es da- und darum. Der Besucher soll seinen eigenen Weg finden können.“ Deshalb gebe es auch keine ausführlichen Erklärtafeln. „Es erscheint leicht anachronistisch, den Menschen so viele Informationen aufzudrücken.“
Vor rund 13 Jahren sah das noch anders aus: Im Jahr 2000 entschied sich die Tate Britain, Werke völlig unabhängig von ihrer Entstehungszeit nach Themen zu ordnen - Claude Monet neben Jackson Pollock zum Beispiel. Bei Kunstkritikern gab es einen Aufschrei, beim Publikum war die Schau aber lange äußerst erfolgreich. Der Ansatz sei für die Tate Britain nun aber überholt, meint Stephens.
Die neutrale Chronologie liefert zum Teil spannende Kontraste, die das Team der Tate Britain selber überraschten. Direkt nebeneinander etwa ist mit „A Favourite Custom“ von Sir Lawrence Alma-Tadema das hoch stilisierte und realismustreue Bild eines römischen Bades zu sehen. Gleich daneben Walter Richard Sickerts düstere und verschwommene Darstellung einer Prostituierten, „La Hollandaise“.
Die meisten würden das moderner anmutende Sickert-Porträt sehr viel später einordnen als das an viktorianische Malerei erinnernde römische Bad, meint Curtis. Verblüffend: „La Hollondaise“ stammt von 1906. Das deutlich älter aussehende „A Favourite Custom“ von 1909. Ähnliche Erlebnisse wiederholen sich während des ganzen Rundgangs.
Ob sich die neutrale Chronologie zu einer Art Trend in der Museumspräsentation entwickeln könnte, will Stephens nicht voraussagen. Anders als andere große Häuser wie etwa der Pariser Louvre habe die Tate mit der britischen Kunst einen eindeutigen Fokus, und das sei für diese Form der Präsentation wichtig.
Zudem gibt es auch in der Tate neben den festen Ausstellungsräumen weiter eigene Bereiche für Highlights der britischen Kunst - Turner, Blake, Constable oder Henry Moore. In sogenannten „Spotlights“, die alle paar Monate erneuert werden, stehen bestimmte Künstler oder Themen im Mittelpunkt. Und zudem wolle man niemals nur zurückblicken und immer auch neue Einflüsse aufgreifen, meint Curtis. „Wir wollen die Sammlung immer wieder auf den neuesten Stand bringen.“