Documenta: Die Kunst kann kommen

Knapp 100 Tage vor der Documenta versucht deren Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev die Spannung zu steigern.

Kassel. Alle fünf Jahre wird monatelang gerätselt: Wer ist dabei? Die Geheimniskrämerei gehört zur Documenta wie Beuys’ 7000 Eichen. Noch knapp 100 Tage sind es bis zum Start der Weltkunstschau am 9. Juni, doch konkrete Projekte werden erst wenige Tage vor der Eröffnung bekanntgegeben. Und auch wenn man heute noch nicht weiß, was einen dort erwartet, so weiß man doch, dass sich rund eine dreiviertel Millionen Menschen auf den Weg in die nordhessische Provinz machen werden.

750 000 Besucher jedenfalls waren es vor fünf Jahren, als Roger Buergel die Documenta 12 leitete. Wie bei dem Kenianer Okwui Enwezor davor war seine Ausstellung stark politisch geprägt. Ein großer Teil der Künstler kam aus Afrika, Asien, Osteuropa, Lateinamerika und war vorher den wenigsten ein Begriff. Das war Konzept, ging es doch um den Versuch, über den Tellerrand Europas hinauszuschauen.

Im Gedächtnis geblieben sind Ai Weiweis 1001 Chinesen und sein vom Sturm „verschönerter“ Türen-Tempel sowie das löcherige Flüchtlingsboot von Hazoumé. Größter Flop war der Versuch, den „Molekularkoch“ Ferran Adriá zum Kunstwerk zu erklären und sein Lokal bei Barcelona zum Documenta-Außenstandort.

Für die 13. Documenta ist die Amerikanerin Carolyn Christov-Bakargiev als Kuratorin bestellt. Ihr Vater war ein Arzt aus Bulgarien, ihre Mutter eine Archäologin aus Italien. Sie selbst hat in Pisa studiert, ihr letzter Wirkungsort war Sydney — ein weiter Blick dürfte also zu erwarten sein.

Von ihrer Mutter habe sie gelernt, „dass man in der Vergangenheit graben muss, um die Zukunft zu verstehen“, sagt die 54-Jährige. So richtig greifbar wird sie aber nicht, auch wenn man ihr gegenüber sitzt. Einerseits sagt sie: „Kunst ist ein Ort, um Fragen zu stellen, nicht um Antworten zu geben“. Andererseits: „Eine gute Ausstellung sollte einen Standpunkt haben.“

Vielleicht sind Nebelkerzen gar nicht unklug. Spätestens seit der Documenta X unter Catherine David ist der „Diskurs“ ein bestimmendes Element jeder Documenta. Lange bevor etwas zu sehen ist, wird darüber gesprochen. Das ist riskant: Im besten Fall schmücken die Kunstwerke die Wand des vorher gezimmerten Theoriegebäudes, im schlechtesten Fall erfüllt die Kunst die Erwartungen nicht.

Christov-Bakargiev gibt Bröckchen preis: „Es sind mehr Frauen dabei, wobei das keine Absicht war.“ Unter den 150 Teilnehmern werden auch nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler und Schriftsteller sein. Auf ein Thema möchte sie sich nicht festlegen, außerdem kündigt sie „weniger Spektakel“ an.

Sie interessieren weniger die Konzepte als die Prozesse, „also wie Kunst entsteht. Was passiert, wenn Sie voller Hoffnung sind wie in Kairo 2011? Welche Kunst gibt es in einer Gesellschaft, in der jeder permanent auf der Bühne steht, weil er alles bei Facebook hochlädt? Anhand solcher Haltungen habe ich versucht, die Ausstellung zu strukturieren.“

Kassel lockt die Massen, doch Experten glauben, dass die Documenta an Bedeutung verloren hat. „Für Künstler wie für Sammler hat sie nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal der 50er und 60er Jahre“, sagt der Vorsitzende des Bundesverbands deutscher Galerien und Kunsthändler, Klaus Gerrit Friese. Dennoch hält er die Schau für einen „Blockbuster im Ausstellungsbetrieb“.