Meinung Der Irrtum über den Judenhass
Wollte man bei der Abscheulichkeit von Gewaltverbrechen noch graduelle Unterschiede machen, der Mord von Paris müsste einen der Spitzenplätze der Verwerflichkeit einnehmen. Dass eine 85-jährige Jüdin, die den Holocaust überlebt hat, nun mehr als 70 Jahre später einer offenkundig antisemitisch motivierten Tat zum Opfer fällt, ist schier unerträglich und macht ganz und gar fassungslos.
Diese Fassungslosigkeit rührt allerdings auch daher, dass man nicht nur in Deutschland, sondern europa- und weltweit lange einem fatalen Irrtum aufgesessen war: dass die monströsen NS-Verbrechen einer industriellen Vernichtungsmaschinerie derart mahnend aus der Menschheitsgeschichte herausragen, dass damit jeglicher Form des Antisemitismus auf alle Zeiten der Nährboden entzogen sein müsste. Das Gegenteil ist der Fall: Nicht einmal der Spanne eines Menschenlebens hat es bedurft, um den Judenhass wieder salonfähig zu machen. Verschwunden war er nie.
Anlässlich seines Besuchs in Israel hat Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) noch einmal auf eindrückliche Weise geschildert, was ihn einst in die Politik getrieben habe: „In der Schulzeit habe ich nach Widerstandskämpfern in meiner Familie gesucht, aber keine gefunden. Da habe ich mich gefragt, was ich selber tun kann, dass es so etwas nie wieder gibt.“ Es gehört zu den schmerzlichen Erkenntnissen der Gegenwart, dass nicht nur dieses Verantwortungsgefühl vor der Geschichte in vielen Köpfen und Herzen fest verankert ist, sondern bei anderen Menschen genauso intensiv eine anscheinend unausrottbare Judenfeindschaft.
Es gab eine Zeit, da wurde eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust mit einem Zuviel an Information darüber erklärt. Das Gegenteil muss heute gelten: nicht nur als Antwort auf den verbreiteten islamischen Antisemitismus, sondern auch auf den einheimischen Moder, wo immer er auch zutage tritt. Vor allem aber: So gegenwärtig der Judenhass ist, so aktuell bleibt die Erwartung des Widerstands dagegen. Sie zu erfüllen, ist unsere Aufgabe — nicht die der Juden.