Offener Brief an Mesut Özil Warum Sie einmal mitsingen sollten, Herr Özil
Lieber Mesut Özil, an dieser Stelle schreiben wir normalerweise keine offenen Briefe. Von dieser Regel weichen wir heute ab, weil wir finden, dass Sie es verdient haben, in all dem Geschrei, das sich heute wieder gegen Sie erheben wird, auch eine andere Stimme zu hören: Wir finden, dass Sie heute einmal mitsingen sollten — aber nicht, weil Talkshow-Fachkräfte vom Niveau Mario Baslers das von Ihnen fordern.
Dass Sie Chören von Schreihälsen widerstehen, haben Sie in bewundernswerter Weise 2010 beim EM-Qualifikationsspiel im Berliner Olympiastadion bewiesen, als sie im Deutschland-Trikot gegen die Türkei spielten und dafür von türkischen Fans in einer Art und Weise ausgebuht wurden, die mehr als unsportlich war. Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass Sie jedes Spiel mit einem Gebet beginnen, während die anderen singen. Sie müssen nicht aus Respekt für „Deutschland“ singen.
Wahrscheinlich sagt Ihnen das aus Höflichkeit keiner, aber ganz ehrlich: „Deutschland“ käme ganz prima auch ohne den Respekt eines jungen Mannes aus, der zur Ausübung seines Berufs unpraktische Schuhe und kurze Hosen tragen muss. Sie sollten nicht für Ihre Kritiker mitsingen, sondern trotz Ihrer Kritiker — aus Respekt vor sich selbst.
Ulli Tückmantel.
Tun Sie es für die Jungs überall in unserem Land, die ihre Eltern so lange genervt haben, bis diese ihnen für 69,95 Euro das Kinder-Nationaltrikot mit der Nummer 10 und Ihrem Namen darauf gekauft haben. Die damit auf Garagenhöfen in Gelsenkirchen, kaputten Bolzplätzen in Neukölln und gepflegten Ballsport-Ressorts am Starnberger See in Ihre Schuhe schlüpfen und für einen glücklichen Moment selber Mesut Özil werden. Die dank Ihres Vorbilds daran glauben, dass alles möglich ist, wenn man sein Herz in einen Fuß legt und dann voll abzieht. Die ein Vorbild für die Idee brauchen, dass man in unserem Land alles erreichen und alles werden kann, wenn man morgens aufsteht, sein Hemd in die Hose steckt und sich anstrengt statt zu jammern.
Tun Sie es für die Idee, dass es bei uns keine Rolle spielt, woher die Eltern kamen oder unter welchem Namen man zu Gott betet. Für die Idee, dass man dieses Land zu seiner Heimat machen kann. Und weil das Lied von Einigkeit und Recht und Freiheit nicht den Gaulands, den Weidels und den Storchs und deren beleidigendem Missbrauch unserer nationalen und demokratischen Symbole überlassen werden darf. Es tut gut, gemeinsam zu singen.
Tun Sie es dafür.