Weihnachten 1944 in Kempen 1944 — ein Weihnachten in der kahlen Kirche

Kempen · Weihnachten 1944 war für die Deutschen kein Fest der Freude mehr. Am Niederrhein verbrachte man die Feiertage großenteils im Luftschutzkeller Ein Rückblick auf die sechste Kriegsweihnacht vor 80 Jahren.

Dezember 1944: Der Blick aus dem Kuhtor bietet eine trübe Aussicht auf die Stadt Kempen. Zahlreiche Gebäude sind zerstört oder beschädigt von Bomben. Auf dem Burgturm hat man einen Flieger-Beobachtungsbunker eingebaut.

Foto: Nachlass Karl Wolters

Die Propaganda bemüht sich zwar unermüdlich, das Volk bei Laune zu halten. Doch die Gesichter der Menschen, besonders die der Frontsoldaten, sprechen eine andere Sprache. Für die, die immer noch an den „Endsieg“ geglaubt haben, zerschlägt sich Weihnachten 1944 die letzte Siegeshoffnung, denn die Ardennen-Offensive, die am 16. Dezember in der Eifel begann und Engländer und Amerikaner bis nach Antwerpen zurückwerfen sollte, ist jetzt gescheitert.

Am 21. Dezember hat Hitler noch im Radio verkündet: „Das deutsche Volk wird Weihnachten mit einem großen Sieg beschenkt werden!“ Aber zwei Tage vor Weihnachten klart das Wetter auf, und in strahlendem Sonnenschein beginnt Heiligabend die Hetzjagd der alliierten Jagdbomber auf die zurückflutenden deutschen Verbände. Über Kempen hängen über Weihnachten Tiefflieger in der Luft, schießen auf alles, was sich bewegt.

Viele Kempener sind am 24.12.44 geflüchtet – oder an der Front

An der Niedergeschlagenheit, am ständigen Hungergefühl können auch kleine Geschenke und ein spärliches Mahl nichts ändern: Als Sonderzuteilung gibt es für Kinder und Jugendliche jeweils 125 Gramm Süßwaren, für jeden Erwachsenen zwei Eier, auch Portiönchen Zucker und Mehl. Knapp die Hälfte der Kempener Einwohner ist Weihnachten 1944 gar nicht zu Hause. Sie dienen als Soldaten bei der Wehrmacht oder in anderen Funktionen. Viele Mütter halten sich mit ihren Kindern in anderen Teilen des Reiches auf, sind schon im September/Oktober vor der Gefahr durch feindliche Flugzeuge, vor den vorrückenden alliierten Truppen geflohen. Meist nach Thüringen.

Zu Weihnachten 1944 sammeln Kempener Frauen Bettwäsche und Kleidung für bedürftige Familien.

Foto: Kreisarchiv Viersen

In Kempen feiert Elisabeth Zerwes, Donkring 60, mit ihren sechs Kindern, neun bis 16 Jahre alt. Ohne ihren Mann, denn Robert Zerwes ist noch in letzter Stunde zur Wehrmacht eingezogen worden. Er steht nun in Dänemark. Aber eine Verwandte ist zu Weihnachtsbesuch: Ilse, geborene Emmerich, aus Aachen mit ihren Töchtern Rosemarie (10) und Ilse (7). Deren Vater, Bernhard Terluhnen, steht auch an der Front, aber anders als Robert Zerwes wird er nicht aus dem Krieg zurückkommen. Geschenkartikel kann man schon lange nicht mehr kaufen. So gibt‘s für die Kinder Selbstgestricktes und -gehäkeltes.

Das älteste der Zerwes-Kinder, der 16-jährige Wolfgang, steht als Flakhelfer zum Schutz des Hydrierwerks Pölitz in Pommern. Im November 1944 ist er an der Oder eingetroffen; seine Kameraden sind größtenteils Schüler des Kempener Gymnasiums Thomaeum. Im Dezember 1944 stößt zum Unterrichten ihr Studienrat Josef Michel zu ihnen, ein überzeugter Nationalsozialist. Nachdem Ende Oktober Aachen von den Amerikanern genommen worden ist, sagt er seinen Schülern kurz vor Weihnachten: „Ich hoffe, dass der Herrgott unserm Führer die Reichsstadt wieder auf den Gabentisch legt.“

Kirchenschätze ruhten im Keller des Franziskanerklosters

Das Fest selbst begehen die jugendlichen Flaksoldaten ohne jeden besonderen Aufwand, dürfen nur in stundenlangem Fußmarsch nach Pölitz in den katholischen Gottesdienst. Zur Christmette am Heiligabend 1944 strebt in Kempen alles in die Propsteikirche. Deren Innenraum ist freilich karg und kahl. Um Schäden durch Luftangriffe zu minimieren, haben Handwerker im Juni 1942 die kostbaren Altäre aus dem Mittelalter in möglichst kleine Teile zerlegt und in die Kellerräume des Franziskanerklosters verbracht. Ebenso den Marienleuchter, die Thronende Madonna, den Christophorus und andere Kunstwerke. Ursprünglich sollten die heiligen Gegenstände in die weitab gelegene Schwäbische Alb, nach Schloss Sigmaringen, transportiert werden, aber die Kempener lassen ihre Kirchenschreine nicht aus der Stadt. Nur das Sakramenten-Haus und das Chorgestühl bleiben, mit fünf Zentimeter dicken Holzplanken eingeschalt, in der Kirche, ebenso die Kanzel.

Im Oktober 1942 sind, nach ersten Zerstörungen durch Bombensplitter, die Fenster ausgebaut und durch blau gestrichenes Glas ersetzt worden. Das geht bei einem Bombenangriff am 8. November 1944 komplett zu Bruch. Wegen des Luftzugs dürfen die männlichen Gottesdienstbesucher ihre Kopfbedeckungen aufbehalten. Nach sechs Wochen sind die Fensterhöhlen notdürftig mit Wellblech und Brettern verschalt. Erst am Sonntag, 24. Dezember, ist die Verglasung wieder hergestellt, und zum Heiligen Abend erstrahlt der Kirchenraum im Schmuck kerzenbesteckter Weihnachtsbäume.

In St. Hubert hat der Bauer Dietrich Anlahr, Königshütte 6, auf Vermittlung des evangelischen Pfarrers Heinrich Petrus Hamer aus Krefeld kurz vor Weihnachten die Eheleute Hans und Fanny Frink mit ihrer 19-jährigen Tochter Charlotte aufgenommen. Fanny Frink ist Jüdin, ist zwar zur evangelischen Konfession ihres Mannes übergetreten, aber sie ist in Gefahr. Anlahr hat den Gefährdeten ein möbliertes Zimmer neben seinem Schlafzimmer zur Verfügung gestellt. Er versorgt sie mit Lebensmitteln wie Kartoffeln und Milch.

Über Zwischenstationen sind die Frinks ins Kendeldorf gekommen. Hier leben, kochen und essen sie genau über den Generalstabsoffizieren des II. Fallschirmjägerkorps, die die Operationen der deutschen Truppen an der Maas planen und in der Wohnstube unter ihnen ihre Mahlzeiten einnehmen. Aber keiner von ihnen merkt etwas – und Fanny Frink überlebt die Weihnachtszeit und das „Dritte Reich“.