„Der Lebenslauf der Liebe“ erzählt eine Düsseldorfer Geschichte. Als Martin Walser in Düsseldorf schrieb und recherchierte
Düsseldorf · Zu den vielen Romanen des mit 96 Jahren gestorbenen Autors gehört „Der Lebenslauf der Liebe“. Das Buch spielt in der Landeshauptstadt. Wie es dazu kam, ist eine eigene Geschichte.
„Susi Gern genoß es, gerecht sein zu können.“ Gleich zu Beginn des Romans hat diese Frau also ihren Auftritt – die Gattin eines sie ständig betrügenden Börsenspekulanten. Sie führt ein Leben im Luxus – und so soll es auch zu Ende gehen. Wenn Susi Gern einmal sterben sollte, möchte sie gerne in einem rosafarbenen Porsche beerdigt werden. So weit, so dekadent, und vielleicht auch so typisch für Düsseldorf. Dort nämlich spielt „Der Lebenslauf der Liebe“ aus dem Jahr 2001, dort lebte auch das „Vorbild“ der Romanfigur und ihrer am Ende tragischen Geschichte. Geschrieben hat den Düsseldorf-Roman einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren: Martin Walser, der am vergangenen Freitag im Alter von 96 Jahren in Überlingen am Bodensee gestorben ist.
Wie es überhaupt zum Buch kam, ist fast schon eine eigene Geschichte. Die begann mit einem Film über den Bodensee, den Walser damals für das ZDF produzierte. Da meldete sich eine Frau aus Düsseldorf bei ihm mit der Bitte, ihr die Filmkassette zu schicken; die wollte sie gern ihrem Mann schenken. Daraus habe sich schließlich der Kontakt entwickelt, erzählte Walser einst: „Und wenn ich ein wenig übertreibe: Ich habe schon beim ersten Telefonat mit ihr diesen Unglückston herausgehört. Ich könnte auch sagen: ein Interesse am Leben, das mir sehr verwandt vorkam. Ich meine ein durch das Leben nicht zu befriedigendes Interesse.“
Damit ging alles los, doch ein Roman braucht seine Reifezeit. 15 Jahre wird Walser der Frau mit ihren Geschichten zuhören und ihr bei der Bewältigung des Alltags zuschauen. Das sei halt sein Interesse an Lebensläufen. „Ein Autor ist natürlich auch ein Menschenfänger. Und mir kommen sehr viele Schicksale ins Haus, die ich in meinen Notizbüchern über Jahre hinweg pflege. Aus den meisten wird literarisch nichts. Andere Schicksale entwickeln sich, bis der Punkt erreicht wird, an dem ich sage: Moment, jetzt habe ich die Geschichte so verinnerlicht, dass ich Herr des Verfahrens bin; jedenfalls bilde ich es mir dann ein.“ Das war dann nach eineinhalb Jahrzehnten der Fall. Doch weil es beim Zuhören und Zuschauen natürlich nicht bleiben kann, macht sich Walser vom Bodensee auf zur Nah-Recherche in Düsseldorf. Im Oktober des Jahres 1999 quartiert sich Walser für sechs Wochen im Düsseldorfer Renaissance Hotel ein.
Er wird immer wieder durchs Zooviertel streifen, „um dort die Sonne auf- und untergehen zu sehen, um die Bäume kennenzulernen“. Dort sucht er auch die Straße, in der Susi Gern ihr anfangs luxuriöses Leben führen könnte. Fündig wird Walser in der Holbeinstraße. Ein bisschen Diskretion bewahrt der Autor dennoch: „Ich suchte eine Hausnummer, die es dort nicht gibt, weil es zu blöd ist, wenn Leute nachher dort belästigt werden.“ Eine besondere Erfahrung, die Walser in Düsseldorf machte: „Ich habe noch nie im Hotel geschrieben. Aber in Düsseldorf konnte ich das. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass das funktioniert.“
Mehr noch als Sonne, Mond und Sterne über Düsseldorf aber interessierte Walser bei seinem Düsseldorfer Arbeitsaufenthalt die Sprache, genauer: der Dialekt, noch genauer: das Düsseldorfer Platt. Mit dem wollte er Conny, eine weitere Romanfigur, ausstatten und kennzeichnen. Das Niederrheinische habe eine „einzigartige, plastische Kapazität und satte Farben, gegen die das Hochdeutsche verblasst“, sagt er. Allerdings sprechen könne er solche Sätze nicht: „Ich habe es schon probiert und schaffe es einfach nicht.“ Bei Lesungen wählte er darum nur Seiten, auf denen Platt nicht vorkommt.
Vor der Veröffentlichung des Romans gibt Walser der Frau in Düsseldorf das Manuskript noch zum Lesen. Sie habe darauf zunächst positiv reagiert, erinnerte er sich. Wenig später jedoch befand sie, dass der Autor sie zu unglücklich dargestellt habe. Also umschreiben? Selbstverständlich nicht! Walser gestand, dass er in dieser Situation nicht die richtige Antwort gefunden habe. „Ich hätte sagen müssen: Genau das ist der Unterschied zwischen einer realen Frau und einer Romanfigur.“
Warum die Geschichte am Ende doch im Unglück endet? Weil der Liebesbetrug zum Lebensbetrug wird und all der schöne Besitz durch eine gigantische Fehlspekulation den Bach runtergeht. Auch darin bewegt sich der Roman nah an der Lebenswirklichkeit der Frau.
Und gerade dies schien für Walser der Moment zu werden, an dem ein Leben zum Schicksal und schließlich erzählbar wird. Beim „Lebenslauf der Liebe“ habe er gemerkt, sagte Walser, „dass ich etwas miterlebe, was mir unglaublich bezeichnend vorkam für dieses Jahrzehnt – das war für mich eine Attraktion“.
Man sollte den Roman wohl wieder einmal lesen.