Zeichnungen im Kai 10 Ein Abenteuerland aus überbordender Vielfalt

Düsseldorf · Im Kai 10 sind 16 zeichnerische Positionen vereint, die fantastischer nicht hätten ausfallen können. Überbordende Vielfalt  lässt den Betrachter staunend zurück.

Sandra Vásquez de la Horra: „Pachamama“.

Foto: Courtesy Monika Schnetkamp Collection, VG Bild-Kunst Bonn/Eric Tschernow

Es ist zu voll im hellen Ausstellungsraum des Zollhofs. Beim Eintritt weiß das Auge nicht, wo es beginnen soll. Zeichnung ist das Thema. Die Zeichnung gilt als Fenster zur Seele. Doch wo entlang sollen sich die Füße bewegen? Von allen Seiten wird das Sehen bedrängt, zu eng gehängt ist die Zeichenkunst von 16 Künstlern, die unterm Segel von Jonathan Swifts Romanfigur Gulliver zu ähnlich beeindruckenden Reisen aufbrechen wie der legendäre Titelheld.

Es sind zu Gullivers Sketches (komödiantische Szenen) junge und ältere Künstler vereint. Kurator Ludwig Seyfarth hat auf Name-Dropping verzichtet, dafür international gemischt, was längst ein Markenzeichen der hohen Ausstellungskultur im privat geförderten Kunstraum von Monika Schnetkamp ist.

Der älteste Teilnehmer, Wolfgang Zach (Jahrgang 1949), hat die längste Zeichnung geliefert, die auf mehr als sieben Metern mit Computereinsatz auf der Vorlage eines ESA-Sternenbildes entstand. Grau und grisselig gähnt dieses Breitwandbild, den Stift hat eine Maschine geführt. Was für ein Graben aber tut sich zwischen Zach und der jüngsten Kollegin in der Runde, Boryana Petkova (Jahrgang 1985), auf. Die in Paris lebende Bulgarin hat für ihren „Zeichenakt“ ein Gestell gebaut, in das sie einsteigt und an der Wand fixiert. Sie erhebt die Hände, erweitert ihren eigenen Aktionsraum und zeichnet rückwärts gestreckt auf die weiße Wand. Es ist eine Notation von Befindlichkeit, wahrscheinlich Bedrängnis. Gekritzel eher nicht. Aber auch keine Befreiung. Das Video zeigt die vollendete Performance, das Gestell liegt daneben.

Was sich im Kai 10 aneinanderreiht, ist ebenso vielfältig wie sinnlich, bildhauerisch, performativ, mitunter total abstrakt – die Zeichnung kommt in Reinform kaum vor. Dabei fußt alles auf der Kulturleistung des Menschen, die 36 000 Jahre vor Christus schon erbracht wurde und bis heute subjektives wie intimes Zeugnis abliefert. Ohne die zeichnende Hand, so Seyfarth, war es bis ins 19. Jahrhundert hinein gar nicht möglich, die Eindrücke und Beobachtungen von Reisen bildlich festzuhalten.

Düstere Radierungen erinnern
an Ueckers Aschemenschen

Bis aus einem Zeichen eine Zeichnung wird, handelt der Mensch kreativ, er deutet um und bewertet, er erfindet etwas, träumt oder bewältigt Kummer. Vielleicht gar kein Zufall, dass die düsteren Radierungen von Hanna Hennenkemper an Günther Ueckers Aschemenschen erinnern. Apokalyptisch sind sie beide, was Uecker nach dem Reaktor-Unglück von Tschernobyl empfand, kommt heute wieder hoch. Auch die sechs Körperabdrücke von Sandra Boeschenstein gehen in diese Richtung. Böse müssen sie gemeint sein. Deutlicher wird die Schweizerin, wenn sie Worte in ihre Zeichnungen einwebt, wie etwa bei der Serie „Sich reinknien als Kulturgut“.

Wie auf Gullivers Wegen durch die Zauberreiche von Riesen und Zwergen, so entführt auch diese Ausstellung in abseitige Welten. Als Lesezeichen könnte dabei die Schnipselarbeit von Birgit Hölmer dienen, die Markierungen am Boden aufbringt. Feine Streifen, die beim Zurechtschneiden von Klebebilderfolien abfallen, verarbeitet sie ornamental.

Papierarchitektur nennt Sandra Vasquez de la Horra ihre Leporellos, die sie dicht und farbig vollzeichnet und mit Wachs versiegelt. Auch die zwei „Häuser“, die in Vitrinen stecken, hat sie albtraumhaft bestückt, das eine meint ein berüchtigtes Bordell in Chile. Die Zeichen vereinen sich als Zeichnung mit dem Schmerz und dem Raum zugleich.

Recht bekannt ist der in Köln lebende Hartmut Neumann, der zeitgleich bei Beck & Eggeling ausstellt. Seine Virtuosität im Einsatz von Farbe, Form und Format ist berückend, und doch geht er in eine auf den ersten Blick unkritischere Fantasiewelt hinein, der man das rein Schöne zuordnen will. Als Zeichnungen im Raum versteht er seine Skulpturen, weil die wie Äste auskragenden Formen Silhouetten bilden.

Die Ausstellung ist ein einziges Abenteuerland, lässt man sich nur drauf ein, was ohne Anleitung schwerfallen dürfte. Am verwegenen Endpunkt von Interpretation steht Dagmara Genda. Schlingen und Bänder aus Metall hat die in Berlin lebende Polin im Durchgang positioniert, zum Teil baumeln sie von der Decke herunter oder sind an Gestellen befestigt. Manche deuten Formen des Alltags an. Assoziationen drängen sich auf. Pornografisch schimmernde Zeichnungen hängen an der Wand. Das Schlingenensemble aus Alu hat wirklich wenig mit Zeichnung zu tun. Und so ploppt beim Betrachter wieder Dissonanz auf. Da kann nur C.G. Jung trösten, der sagte: Oft wissen die Hände ein Geheimnis zu enträtseln, an dem der Verstand sich vergebens mühte.