„An jeder Schule gehen Nacktbilder von Schülern rum“
Aufklärer Markus Merkle spricht über „Sexting“ und Jugendliche ohne Privatsphäre.
In Düsseldorf stand dieser Tage ein 45-Jähriger vor Gericht, der sich in einem Schüler-Netzwerk im Internet als ein 14-Jähriger ausgab und vermeintlich gleichaltrige Mädchen ansprach, die sich ihm in erotischen Posen zeigten.
Längst gibt es für das Phänomen einen eigenen Begriff: „Sexting“, eine Kombination aus den Worten „Sex“ und „Texting“, meint intime Fotos, die Minderjährige von sich selbst aufnehmen und an Bekannte oder gar Fremde verschicken. Besonders über soziale Netzwerke wie Facebook oder den Handy-Messaging-Dienst Whattsapp.
Markus Merkle, Projektleiter des Aufklärungsdienstes Handysektor und Geschäftsführer der Mecodia GmbH, einer Fort- und Weiterbildungsakademie mit Schwerpunkt Neue Medien und Internetsicherheit, kämpft dagegen an und tourt durch Deutschland, um an Schulen Aufklärungsarbeit zu leisten. Im WZ-Gespräch erklärt er das Phänomen und den Kampf dagegen.
Herr Merkle, warum gehen Jugendliche so freizügig mit ihrer Privatsphäre um und verschicken sogar erotische Fotos von sich selbst?
Markus Merkle: Generell lässt sich sagen, dass es bei Jugendlichen eine größere Offenheit gibt als bei einem Erwachsenen. Speziell, wenn man sich in der Pubertät befindet, in einer Selbstfindungsphase. In einer Phase, in der man Selbstbestätigung bekommen will und hören möchte, wie hübsch und toll man vielleicht ist.
Wir beobachten in letzter Zeit immer häufiger, dass Jugendliche, im ersten Moment vielleicht auch unüberlegt, Fotos von sich selbst verschicken, die durchaus aufreizend sein können. Erst danach, wenn man wieder einen klaren Kopf hat, bemerken viele, auf was sie sich da eingelassen haben.
Liegt das auch generell an einer Sexualisierung der Gesellschaft? Erotikfilme sind durch das Internet heute für so gut wie jeden immer und überall verfügbar. Hat sich dadurch das Verhältnis von Jugendlichen zur Sexualität geändert?
Merkle: Das kann sicherlich daran liegen. Ich selbst kann da keine direkte Aussage zu treffen, sondern nur von dem berichten, was wir bei unseren Workshops an Schulen selbst erleben. Vor zwei Jahren habe ich das Wort „Sexting“ selbst noch nicht gekannt. Mittlerweile erleben wir an jeder Schule, mindestens einen solchen Fall und dass da tatsächlich Nacktbilder von einzelnen Schülern an der ganzen Schule im Umlauf waren.
Wie kann das immer noch passieren? Mittlerweile müsste durch den NSA-Skandal und die vielen Aufklärungskampagnen doch bei jedem Jugendlichen angekommen sein, dass das Internet neben all seinen Vorzügen auch Gefahren birgt. Gerade was das Thema Privatsphäre angeht.
Merkle: Das ist eben eine gesellschaftliche Entwicklung. Viele haben mittlerweile die Haltung: „Man kann doch eh nichts dagegen tun. Über Apps auf dem Handy oder Cookies im Internetbrowser werden überall Daten von mir erhoben. Das kann ich selbst gar nicht mehr kontrollieren. Warum soll ich mir da jetzt einen großen Stress machen? Außerdem bin ich doch gar nicht so interessant.“
Also wie der alte Satz: Ich habe nichts zu verbergen?
Merkle: Ja, diese Mentalität steckt dahinter. „Ich mache ja nichts Verbotenes, sollen sie doch alles von mir wissen.“ Diese Einstellung bereitet uns große Sorgen. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, merken wir das sogar bei der Privatsphäre von anderen. Auch die ist vielen nichts wert.
Auf dem Schulhof oder einer Party wird mal eben ein Foto gemacht. Und dieses lädt man dann bei Facebook hoch oder stellt es in die Whattsapp-Gruppe, ohne die abgebildeten Personen auf dem Bild um ihre Zustimmung zu fragen. Wenn wir den Schülern dann sagen, dass man nicht einfach von jemandem ein Bild machen und auch noch veröffentlichen darf, dann schütteln die Schüler den Kopf und sagen: „Hä? Das macht doch jeder.“
Dieser Generation ist gar nicht bewusst, dass man eine Rechtsverletzung begeht und dadurch bestraft werden kann. Da setzen wir an und versuchen durch Workshops in den Schulen, die Schüler aufzuklären und ihnen zu erklären, dass das kein Spaß ist, sondern gefährlich werden kann.
Wie man jetzt in Düsseldorf gesehen hat.
Merkle: Ja, das Stichwort heißt Identitätsdiebstahl. Dann kommt es zu solchen Fällen wie in Düsseldorf, dass sich ein 45-Jähriger ein Bild eines 14-Jährigen besorgt, um damit andere Jugendliche zu täuschen und Vertrauen zu gewinnen. Und wenn er sich mein Bild aussucht, kann das für mich Probleme geben. Spätestens bei der Bewerbung. Auch Cybermobbing kann so entstehen. Wenn es freizügige Bilder von mir im Netz gibt, bin ich anfälliger dafür.
Die meisten Probleme entstehen aber doch dadurch, dass jemand selbst seine Bilder verschickt? Warum verschicken Jugendliche erotische Bilder von sich selbst an wildfremde Menschen?
Merkle: Wir können es uns auch nur mit der Selbstbestätigung erklären. Jeder bekommt gern Feedback, dass er toll aussieht. Gerade in der Pubertät. Und die anderen aus dem Freundeskreis machen es ja auch. Man muss dazu sagen, dass die meisten ihre Bilder ursprünglich nicht für alle machen.
Meistens schicken sie die Fotos im Vertrauen an eine kleine Gruppe von Menschen häufig nur an einen. Und selbst, wenn es sich um eine komplett fremde Person handelt, gibt es meistens den Zusatz: „Das Bild ist nur für dich.“ Dieses Vertrauen wird dann missbraucht. Auch von Freunden. Immer wieder hören wir, dass Mädchen ihre Bilder als Liebesbeweis an den ersten Freund schicken.
Der sagt vielleicht: „Wenn du mich wirklich liebst, kannst du mir auch ein Nacktfoto von dir schicken. Ich schicke das ja nicht weiter.“ Am Anfang winkt die Freundin vielleicht noch ab. Aber wenn der Freund ein zweites oder drittes Mal nachhakt, sagt sich das Mädchen: „Stimmt ja, du kennst mich ja eh nackt.“ Dann wird es doch geschickt, die Beziehung geht in die Brüche und die Bilder gehen an der ganzen Schule rum.
Was kann man dagegen tun? Sind die Lehrer gefragt? Und ist das überhaupt sinnvoll? Nicht alle Lehrer, gerade wenn sie etwas älter sind, wissen ja genau, was da auf den Smartphones abgeht. Müssen nicht erst die Lehrer geschult werden, bevor sie die Schüler über die Gefahren aufklären können?
Merkle: Sensibilisierung ist immer wichtig. Aber speziell bei den Schülern. Die müssen lernen, welche Konsequenzen es haben kann, wenn man ein erotisches Bild von sich verschickt und es in Umlauf kommen kann. Und sie müssen lernen: Selbst an den eigenen Freund oder die Freundin darf man einfach keine Nacktbilder verschicken.
Das heißt, Sie nehmen die Lehrer komplett aus der Verantwortung?
Merkle: Nein, den Lehrern muss man deutlich machen, dass es dieses Phänomen gibt und dass sie wachsam sein müssen. Meistens sind die Lehrer aber weit ab vom Schuss, die kriegen gar nicht mit, was ihre Schüler so machen. Die Bilder werden über Whattsapp-Gruppen verschickt, in denen die Lehrer nicht drin sind. Wie sollen sie es dann mitbekommen?
Das vielleicht nicht, aber sie können Aufklärung betreiben und das Thema offen ansprechen.
Merkle: Wenn sie es denn wahrhaben wollen. Wir waren letztens bei einem Elternabend bei einer Schule in Norddeutschland. Danach ist der Schulleiter völlig empört zu mir gekommen und hat mich gefragt, was mir einfallen würde, an seiner Schule Panik zu verbreiten. Bei ihn an der Schule gebe es das nicht, das wüsste er sonst.
Am nächsten Tag waren wir an derselben Schule in einer achten Klasse. Und genau dort ist rausgekommen, dass es mittlerweile ein Penis-Bild von einem Schüler gibt, das an der kompletten Schule verbreitet war. Wir erleben immer wieder das Problem, dass Lehrer, Schulleiter und Eltern gar keinen Zugang zu den Kommunikationswegen der Schüler haben, wo die Bilder getauscht werden.
Selbstverständlich ist es aber wichtig, dass auch Lehrer und Eltern über Sexting aufgeklärt werden, denn sie sind im Fall der Fälle eine wichtige Anlaufstelle bzw. eine Vertrauensperson, die bei der Schadensbegrenzung helfen können.Unser Ansatz ist daher Schüler, Lehrer und Eltern über die Gefahren im Netz zu informieren.
Das klingt so, als wären allen Beteiligten die Hände gebunden. Durch die Smartphones hat nun mal heutzutage jeder immer eine Kamera dabei und kann Bilder und Videos in Sekundenschnelle aufnehmen und in alle Welt verschicken. Sind also die technische Entwicklung und die damit verbundene Vereinfachung das eigentliche Problem?
Merkle: Auf jeden Fall. Das beobachten wird auch. Früher, hatte ich bestenfalls eine Digitalkamera und musste das Video oder Foto erst auf den PC ziehen, eine Auswahl treffen, es bearbeiten und dann mühsam und langsam verschicken.
Das heißt, ich hatte mehrere Schritte zu gehen und konnte immer wieder überlegen, ob ich es wirklich tue. Heute mache ich ein Foto und verschicke es eine Sekunden später ohne vorher vielleicht alle Konsequenzen bedacht zu haben. Die technische Entwicklung erleichtert das Phänomen natürlich.
Auch, was die Verbreitung betrifft. Nehmen wir an, in meiner Whattsapp-Gruppe sind 30 Personen. Einen Klick später haben alle dieses Bild. Wenn es dann nur die Hälfte weiterschickt, kann das Bild innerhalb weniger Minuten an einen riesigen Personenkreis geschickt werden. Das ist eine Kettenreaktion.
Was ist also zu tun? Das Rad der Technik wird nicht mehr zurückgedreht.
Merkle: Sobald das intime Bild gesendet ist, hat man die Kontrolle darüber verloren. Dessen müssen sich alle bewusst werden. Es geht also um Aufklärung und Prävention.
Was raten Sie Jugendlichen, die bereits ein Bild verschickt haben und nun Angst haben, dass es die Runde macht?
Merkle: Diese Frage bekommen wir immer wieder gestellt: „Ich habe einen Fehler gemacht und ein intimes Foto von mir verschickt. Kann ich dann zur Polizei gehen und die löscht das dann bei allen?“ Das wird nicht passieren. Im besten Fall findet man denjenigen, der es als erstes weggeschickt hat und kann den bestrafen. Aber es von allen Smartphone runter zu bekommen oder den Konzern Whattsapp zu bitten, es zu löschen, funktioniert schon rein technisch nicht.
Weil sich das Bild auf jedem einzelnen Smartphone befindet. Auch mit speziellen Programmen wie Snapchat sollte man vorsichtig sein. Snapchat macht Fotos mit Ablaufdatum. Das verschickte Bild wird nur zehn Sekunden auf dem Empfängergerät angezeigt, dann ist es wieder weg.
An sich eine gute Sache. Und viele Jugendliche glauben, dass das auch so ist. Aber in diesen zehn Sekunden haben die Empfänger Zeit, das Bild zu speichern. Und dann ist es im Umlauf. Auch da gilt: Nichts verschicken, was man später bereuen könnte.