Düsseldorf. Sebastian „Basti“ Dengler zieht sich die Polizeimütze vom Kopf und streicht sich durch das verschwitzte blonde Haar. Die Mütze hat auf seiner Stirn einen roten Abdruck hinterlassen. Seine blauen Augen sind glasig und müde. „Ich geh gleich nur noch schlafen.“ Es ist kurz nach sechs am Morgen. Draußen ist es schon länger taghell. Der McDonald’s am Bolker Stern hat gerade erst zugemacht, die Pizzabuden nebenan auch. Jetzt fegen Straßenkehrer die leeren Bierflaschen und Pommestüten der Nacht zusammen. „Basti“ kommt aus der Tür Heinrich-Heine-Allee 17 und blinzelt ins Licht. In den vergangenen neun Stunden wurde er als Hurensohn beschimpft, eine betrunkene Frau warf ihm Betrug vor, man hat ihn verhöhnt, während er einem Verletzten helfen wollte. Er ist Polizist in der Altstadtwache. Und das war eine ruhige Nacht.
Land unter in der Wache Sie beginnt wie immer um 21 Uhr, diese Nacht. Und Sebastian Dengler ist wie seine Streifenkollegen Torben Terspecken und Öcal Kizilkula froh, auszurücken, weil ein Angetrunkener sich den Knöchel verdreht hat. In der Wache ist Land unter. Es hat stark geregnet, und das Wasser drückt durch den Gully. Fünf Zentimeter hoch steht eine unappetitliche Brühe in den Gewahrsamszellen. Die Wachdienstführerin, bewaffnet mit blauen Plastikhandschuhen, moppt seufzend durch das Chaos. Die Toiletten im Erdgeschoss sind ebenfalls nicht mehr zu benutzen — wer muss, muss in die siebte Etage. Und wie an jedem Wochenende seit Silvester ist ein Zug der Hundertschaft zur Unterstützung in der Altstadt. Unschönes Geknubbel.
Splitter im Glas? Derweil sind die Altstadtgassen und das Rheinufer gerammelt voll. Es ist Messe, die Terrassen sind gut besucht. Die Funkgeräte der Polizisten knacken. Bezahlstreit vor einem Restaurant an der Bolkerstraße. Ein russischer Besucher behauptet, in einem Getränk eine Scherbe gefunden zu haben. Nun wollen er und seine zwei Begleiter weder dieses Bier noch die diversen zuvor oder die Speisen bezahlen.
Die Stimmung ist schon angespannt und eskaliert wenig später völlig. „Dann schicken wir die Polizei weg und klären das ganz anders!“, flucht der Gastronom. Der Russe pöbelt auf Englisch zurück: „Weißt du, was wir in Russland mit dir machen würden?“ Sebastian Dengler zieht den Chef ein paar Meter zur Seite. „Du belastest doch gerade nur dein Herz“, beschwichtigt er, während seine Kollegen auf die Gäste einreden. Zehn Minuten später zücken die ihre Scheinchen und begleichen die Rechnung.
Die Polizisten warten, bis sich das Trio getrollt hat. „Oh, ich glaube, es fängt an zu regnen“, sagt Öcal Kizilkula und wischt sich einen Tropfen von der Schulter — dann lacht er. „Oder einer hat mich angespuckt!“ Aber wenige Minuten später öffnet der Himmel tatsächlich seine Schleusen, klitschnasse Menschen rennen vom Rheinufer Richtung U-Bahn. Torben Terspecken lächelt unter seinem tropfenden Mützenschirm: „Gutes Wetter für uns. Da passiert weniger.“
Verloren in der Altstadt Als der Platzregen aufhört, sind die Gassen der Altstadt in der Tat geleert. Ein junger Mann, der in der Mutter-Ey-Straße herumlungert, entpuppt sich bei der Überprüfung als bekannt wegen Raubüberfalls und bekommt einen Platzverweis. Bei einem Kontrollgang am Alten Hafen torkelt ein völlig betrunkener Anfangzwanziger auf die Streife zu. „Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, wo mein Hostel ist?“
Der sächselnde Jüngling erklärt, sowohl seine Kumpels als auch den Zettel mit der Adresse verloren zu haben. Anrufen könne er die Freunde nicht, kein Handy dabei. „Ich verlier ja immer alles!“ Auf Öcal Kizilkulas Tipp, es mal am A&O Hostel zu versuchen, sagt er, er habe aber auch kein Taxigeld. Alles versoffen. „EC-Karte?“, fragt der Polizist mit hochgezogenen Brauen. „Die hab ich nicht bei. Ich verlier doch alles — konzentrier’ dich mal!“ Dann will er einen Kopfstand machen. „Nee, lass mal“, winkt Dengler ab. Man überlässt ihn seinem Schicksal — wer noch Kunststücke kann, braucht keine Polizei. Feixend zieht die Streife weiter.
Ein Mann, vier Identitäten Zurück in der Bolkerstraße entdeckt Dengler einen jungen Mann in T-Shirt und Jogginghose, den er jetzt schon mehrfach herumstreunen gesehen hat. Der Asylbewerber ist — wie eine Abfrage seines Namens ergibt — mit vier verschiedenen Personalien angemeldet. Und in seinem Portemonnaie findet Dengler fast 600 Euro in bar. Er pfeift durch die Zähne. „So viel dürfte er gar nicht haben, er bekommt ja nur eine Grundsicherung.“ Der junge Mann muss mit zur Wache. Der Weg ist ein Spießrutenlauf begleitet von zischenden Kommentaren völlig unbeteiligter Altstadtbesucher — „Fotzen“ und „Hurensöhne“. Einer ruft laut: „Und gleich liegt er blutend am Boden.“ Die Polizisten verziehen keine Miene.
Im ED-Raum der Wache für die erkennungsdienstliche Behandlung drückt Torben Terspecken den Finger des jungen Mannes auf den elektronischen Fingerabdruck-Scanner. „Also, so wie es aussieht, ist er entweder ’91 oder ’94 geboren, Marokkaner. Aber er hat sich auch mal als Syrer angemeldet. Oh, und sogar als Israeli. Sehr kreativ.“ Residieren soll der nach eigenen Angaben 26-Jährige in Bitburg; was er in Düsseldorf will, kann er nicht sagen. Immerhin ist er nicht als Taschendieb bekannt. „Es hilft nichts“, sagt Dengler irgendwann. „Werfen wir ihn wieder raus.“ Die Fußstreife wird gebraucht: Schlägerei an einer Disko auf der Bolkerstraße.
Massenschlägerei im Club Ein Mann soll eine Frau geschlagen haben. Eine andere Fußstreife ist allerdings schneller da. Macht nichts. Schon kommt eine Gruppe dicklicher Männer in Sakkos vorbeigerannt, die aggressiv über die Straße brüllen. Hinterdrein der Securitymann einer Disko, der von den Ex-Gästen noch 60 Euro eintreiben will. Kurz vermitteln die Altstadtpolizisten, dann werden sie zur Ratinger Straße gerufen. Diesmal: Massenschlägerei. Es geht auf 3 Uhr zu. Die Nachtschicht nimmt Fahrt auf.
Vor dem Club humpelt ein Mann in einen Rettungswagen. Laut Türsteher hat er eine Faust ins Gesicht bekommen und ist zu Boden gegangen. Der vermeintliche Schläger steht mit leerem Blick schwankend an der Hauswand. Seine Kumpels sind umso redseliger und quasseln lautstark durcheinander auf die Polizisten ein. Bis eine junge Frau die Straße entlanggestöckelt kommt und die zwei — einer davon ihr Freund — gehörig zusammenfaltet: „Wollt ihr mich verarschen? Euch kann man echt nicht allein in die Altstadt lassen!“ Die Polizisten nehmen alle Personalien auf, dann gibt es einen Platzverweis für den angeblichen Schläger. Für ihn ist der Abend gelaufen.
Eingesperrt im Kirchenhof Nicht so für Dengler, Terspecken und Kizilkula. Um 4 Uhr treffen sie auf kichernde Hundertschaftskollegen auf der Bolkerstraße. „Hat jemand einen Schlüssel?“, fragt eine Polizistin vor dem hohen Eisentor an der Neanderkirche. Dahinter wankt ein Mann mit Hut durchs Gebüsch. „Lasst mich in Ruhe!“, lallt er aus dem Dunkel. Doch Sebastian Dengler kann ihn dazu bewegen, ans Tor zu kommen. Er schiebt ihm eine aus der Nachbardisko besorgte Fußleiter durch die Stäbe, der Betrunkene klettert aufs Tor — und wird beim Sprung herunter vom Polizisten aufgefangen. „Mich haben welche gezwungen, da drüberzuklettern“, betont der Befreite mit halboffenen Augen. Dengler und er verabschieden sich mit Handschlag.
Platzwunden und kreischende Frauen Ein Türsteher kommt mit dem gefundenen Portemonnaie einer Schweizerin auf die Streife zu, dann wieder eine Pöbelei vor der Bolkerstraße-Disko, in der zuvor ein Mann eine Frau geprügelt hatte — diesmal zwischen abgewiesenem Mann und Türsteher. Dann knackt wieder das Funkgerät: „Einsatz am Grabbeplatz. Ein Ösi hat sich von einer Frau ins Gesicht schlagen lassen.“ Die Polizisten grinsen kurz und hasten los. Sie werden die Frau vor Ort nicht mehr finden — aber das erboste Opfer beruhigen können.
Wenig später bricht in der Mertensgasse die Hölle los. Ein junger Mann in Lederjacke fliegt direkt vor den Augen der Beamten aus der Tür einer Bar, schon eine blutende Platzwunde an der Schläfe und eine weitere am Kinn. Kreischende Frauen laufen zwischen ihm, den Securityleuten und den eintreffenden Polizisten hin und her. Öcal Kizilkula versucht in dem Gewirr herauszufinden, was eigentlich passiert ist. „Ich hab’ eine kassiert“, sagt der blutende Mann nur. Und irgendwas habe das Ganze mit einer Freundin und einem anderen Kerl zu tun. Und seinem sprittigen Atem nach auch mit ein paar Promille. Derweil will die Begleiterin des Verletzten bei Dengler Anzeige erstatten, weil einer der Türsteher ihren falschen Fingernagel abgebrochen habe. Eine Männergruppe kommt vorbei, nimmt den Beamten in die Zange und tanzt ihn mit sambahaftem Schulterschütteln an. Jetzt reicht es ihm. Er zieht den Tänzer an die Seite und liest ihm die Leviten: „Stellen Sie sich mal vor, ich käme zu Ihnen auf die Arbeit und würde mich Ihnen gegenüber so benehmen. Macht man so was?!“ Kleinlaut entschuldigt sich der Herr — wie alle um diese Zeit mit gehörigem Schlafzimmerblick — und zieht vondannen.
Aber ruhiger wird es nicht — in dieser ruhigen, aber fortgeschrittenen Nacht. Als Dengler einen Strafantrag für das Fingernagel-Opfer ausfüllen will und ein Kreuzchen bei „Körperverletzung“ macht, kommt die Freundin dazu: „Was schreiben Sie da? Das ist doch alles Betrug, Alter. Betrüger seid ihr!“ Wie eine Flipperkugel läuft sie zwischen den Polizisten umher, zerrt an ihren Freunden. Auch an dem Verletzten. Kizilkula schaut sie nur an und schüttelt den Kopf: „Guck mal, er ist derjenige, der hier verletzt wurde, und er ist der einzig Vernünftige.“ Der schaut mit lädiertem Gesicht und schielenden Schnapsaugen grienend zu dem bärtigen Polizisten hoch: „Ja, nä?“
Brav gibt er alle Antworten, die der Beamte will. „Irgendwann kommt dann aber doch Post, dass die Anklage fallen gelassen wird“, sagt er resigniert, aber für seinen Sprit-Atem erstaunlich klar. Öcal Kizilkula presst die Lippen zusammen. Darauf antwortet er nicht. Dafür nun doch auf das unentwegte Gepöbel der noch immer flippernden Begleiterin: „Noch ein Wort und es geht in die Zelle!“ Das sitzt. Weiterhin zeternd sucht sie das Weite.
Harter Kerl ganz weich Es ist nach fünf und die Altstadtclubs sind inzwischen fast leer. Wer jetzt in der Morgendämmerung durch die Gassen wankt, ist allerdings jenseits von Gut und Böse. Die Polizisten werden von der Security der Rheinbahn in den U-Bahnhof Heine-Allee gerufen, wo ein Mann seit zwei Stunden randaliert. Zuletzt riss er die Tür einer bereits fahrenden Bahn auf. Die Polizisten führen ihn auf die Straße, wo er weinend an „Basti“ Denglers Schulter zusammenbricht, schluchzend von seiner Trennung und seinen zwei Kindern erzählt. Denglers Kollegen stehen kichernd dahinter: Der Randalierer hat ein Hosenbein hochgezogen, darunter ist leuchtend rot „ACAB“ auf seine Wade tätowiert — die Abkürzung für „All cops are bastards“ („Alle Polizisten sind Bastarde“). Aber mit steigendem Pegel und Anlehnungsbedürfnis ist diese sicherheitspolitische Grundüberzeugung augenscheinlich in den Hintergrund getreten.
Der erweichte harte Kerl muss versprechen, sich ein Taxi zu nehmen, und darf gehen. Schluchzend löst er sich aus „Basti“ Denglers Armen und tappst Richtung Taxistand, während sich ein Stück weiter am Bolker Stern bei einem ausklingenden Junggesellenabschied Bräutigam und einer der Kumpels herumschubsen — weil er mal mit der Zukünftigen des Zukünftigen geschlafen habe, lallt der Kumpel mit breitem badischem Dialekt. „Oh, da wär’ ich auch sauer“, sagt Dengler und grinst. Wieder versöhnliche Handschläge, auch mit den Polizisten. Dann muss die Streife zurück in den U-Bahnhof — wieder mal das Hausrecht der Security gegen zwei besoffene Pöbler durchsetzen.
Auf dem Rückweg zur Wache — es ist fünf vor sechs, fünf vor Schichtende — werden die Kollegen noch Zeugen, wie ihr Dienstgruppenleiter einen Platzverweis gegen drei junge Typen ausspricht, die mit lauten „ACAB“-Rufen an der Wache vorbeigestolpert sind. Mit strengem Blick und erhobenem Zeigefinger schreit er die diskussionswilligen Halbstarken an: „Ab jetzt. Sonst kommt ihr ins Gewahrsam!“ Um sich dann lächelnd Dengler, Terspecken und Kizilkula zuzuwenden: „Und, ruhige Nacht gehabt?“ „Ja, mega ruhig“, sagt Dengler und reibt sich über die müden Augen. Nur noch ins Bett will er. Öcal Kizilkula vielleicht noch zum Bäcker. Keiner von ihnen, sagen sie, wird noch groß über diese Nachtschicht nachdenken. In 15 Stunden beginnt die nächste. Hoffentlich wieder eine mega ruhige.