Stadt-Teilchen Die Heimtücke der Kapernsoße
Düsseldorf · Unser Autor geht essen und beobachtet den Todeskampf einer Wespe.
Der Tod lauert in der Kapernsoße. Die ist so richtig schön sämig, genau wie sie sein sollte. Sie umschmeichelt die Königsberger Klopse und lässt sich fein von den beigelegten Kartoffeln aufsaugen. Dazu ein schmackhafter Rote-Bete-Salat. Mittagstisch im „Ohme Jupp“ an der Ratinger Straße. Eine feine Sache.
Das findet auch Frau Wespe, die sich gegen Ende der Mahlzeit ungefragt zu den Resten der kulinarischen Komposition gesellt. Erst übt sie den Schwebetwist über dem jüngsten Tellergericht, schwingt ihren schwarz-gelb gestreiften Hintern eine Spur zu keck hin und her. Dann landet sie trotz einer abwehrenden Bewegung des Tellerinhabers. Mit ein bisschen zu viel Schwung. Schon droht die Konsistenz der Kapernsoße ihr Verhängnis zu werden. Frau Wespe hängt fest aufgrund der gerade noch gelobten Sämigkeit. Eben war sie noch ein eher lästiger Gast, plötzlich ist sie eine bemitleidenswerte Kämpferin um ihr kleines Wespenleben.
So eng liegen die vitalen Aggregatzustände manchmal zusammen in der Altstadt. Eben noch lebenslustig und mutig, jetzt lebensgefährlich verfangen. Zustände sind das!
Frau Wespe kämpft. Sie schüttelt sich, doch es gibt offensichtlich kein Entkommen aus der Todesfalle. Aber so ist das wohl, wenn man nicht hören will. Vielleicht sollte irgendwer mal ein Video drehen, in dem eine fette Hip-Hop-Hornisse alle Wespen warnt. „Hey, ihr Vespas. Macht keinen Scheiß. Benehmt euch. Achtet auf den richtigen Abstand, und hütet euch vor den Resten der Kapernsoße. Die ist für Menschen schmackhaft, aber für euch leider lebensschlüpfriges Terrain.“
Die Wespe zappelt weiter. Niemand hat sie gewarnt, wahrscheinlich besitzt sie nicht einmal ein Smartphone, auf dem sie ein entsprechendes Video schauen könnte, und jetzt steckt sie im wahrsten Wortsinn tief in der Patsche. No way out. Von irgendwo her meint man die Doors zu hören: This is the end, beautiful friend, the end.“
Derweil geht das Leben auf der Ratinger Straße ungerührt seinen Gang. Gerade donnern zwei Lastenfahrräder mit imposanten Vorbauten über das Kopfsteinpflaster. Einen Höllenlärm ergibt das, aber alle nehmen es gelassen. Mittags in der Altstadt ist Gelassenheit das Kleid der Wahl.
Da bleibt Zeit, darüber nachzudenken, warum Kopfsteinpflaster eigentlich Kopfsteinpflaster heißt. Kurz im Schlauphon nachgeschaut. Da hat jemand nicht ganz ernst gemeint geschrieben, dass das Kopfsteinpflaster Kopfsteinpflaster heißt, weil es auf der für den Verkehr freigegebenen Fläche aussieht wie eine Opa-Glatze. Sachen und Menschen gibt‘s!
Im Schlauphon steht nicht, warum die Menschen diese holprige Angelegenheit so romantisch finden. Nur weil sie alt ist oder alt wirkt? Ist alt sein bei Dingen per se ein Wert, den es zu erhalten gilt, unabhängig von sonstigen Eigenschaften? Wer Zeit hat, hier zu schlendern oder sich zur Mahlzeit einzufinden, der hat wirklich Zeit. Zeit zu sinnieren, Zeit, unnützen Gedanken auch mal etwas länger als nötig nachzuhängen.
Vielleicht ist die gedehnte Auszeit hier nur eine verlängerte Mittagspause, aber sie lässt sich genießen, weil die Sonne scheint und das Leben mit halber Lunge bewältigt werden kann. Niemand ist hier auf der Suche nach großen Abenteuern. Auf Abenteuer sind jene aus, die nachts kommen. Die wollen hier was erleben, die suchen schnelles Glück, richtige Aufregung. Die suchen das Neue in der alten Stadt.
Am sonnigen Mittag ist hier nur die Wespe aufgeregt. Sehr aufgeregt. Es geht schließlich um nicht viel weniger als ihr Leben. Sie strampelt, sie dreht sich. Man sieht, dass es ihr nicht gut geht. Man möchte ihr helfen. Aber wie? Der Tod in der Kapernsoße scheint nah.
Im Geiste poppt da schon die Schlagzeile vom nächsten Tag auf. „Der Tod lauerte in der Kapernsoße.“ Mal was anderes als immer nur die Geschichten von jungen Menschen, die nicht kapieren wollen, dass allzu viel Nähe auch etwas Schlechtes sein kann. Aber wie sollen sie das auch wissen, wenn sie sich als unerfahrene Wesen mit Frustrationshintergrund wiederfinden im Würgegriff der eigenen Körperchemie, wenn die Hormone zur Balz rufen?
Aus der Neubrückstraße biegt gerade ein fetter Mercedes in die Ratinger ein. Natürlich hängen die gebräunten Arme der Insassen lässig aus den weit geöffneten Fenstern. Sie zucken rhythmisch zu dem Umpf-Umpf-Sound, der im Inneren des Wagens wie Musik klingen mag, der außerhalb aber nur tönt wie eine schlecht geölte Dampframme, die geeignet scheint, gleich das Autodach gen Himmel zu heben.
Für einen Sekundenbruchteil scheint es, als füge sich die Wespe in der Kapernsoße diesem Rhythmus, als tanze sie mit, als habe sie sich ihrem Schicksal ergeben und erwarte nun in benebelter Ekstase das Unausweichliche.
Schon wieder kommt ein Wagen aus der Neubrückstraße gebogen. Er ist orange und gehört zum Verkehrsmanagement. Sagt zumindest die Aufschrift auf seiner Seite. Das Orangenauto hält, und ein Mann springt heraus. Er trägt ein Schild im Arm, ein rundes. Das schraubt er auf die Rückseite eines mobilen Sackgassenschildes. Nun prangt dort ein rundes Schild, das Lastkraftwagen warnt, dass die Straße nur zehn Meter breit ist. Ist sie tatsächlich zehn Meter breit? Sieht nicht jeder, dass das weniger als zehn Meter sind? Und wenn es weniger als zehn Meter sind, warum steht dann auf dem Straßenschild, dass es zehn Meter sind? Aber egal. Mittags sind alle viel zu entspannt, um nachzumessen.
Für so ein Schild haben sie Geld. Aber ein Warnschild für ertrinkende Wespen? Achtung, sämige Kapernsoße! Fehlanzeige. Der Wespe scheint nun nicht mehr zu helfen. Was tun? 112 wählen?
Doch da naht Rettung. Es ist ein Bierdeckel, den ein aufmerksamer Tischnachbar anreicht und damit der Hilflosigkeit ein Ende bereitet. Der Bierdeckel wird als Hilfsangebot über die Oberfläche der Kapernsoße gehalten, und die Wespe lässt sich tatsächlich auf den angebotenen Deal ein. Sie krabbelt, sie zappelt, und dann hangelt sie sich irgendwie heraus aus der Soße, klammert sich an den Untersetzer-Filz. Für einen Moment harrt sie aus, just über der Bierdeckelaufschrift, die für sie wie Hohn klingen muss. „So schmeckt Düsseldorf“ steht da. Aber die Wespe kann nicht lesen. Sie berappelt sich, sie schüttelt sich, und dann fliegt sie fort. Etwas wackelig noch, aber sie fliegt.
Happy End in der Altstadt. Mittags kommt hier alles zu einem guten Schluss. Mittags läuft das Leben hier, wie es soll, und manchmal ist halt auch ein kleines bisschen Aufregung inklusive. Und schon ist das nächste schwarz-gelbe Tier im Anflug. Es lauert über den Resten der Kapernsoße. Es hört nicht auf das leise „Nein, nein“. Es setzt zum Landeanflug an. In Wespen nichts Neues.