Die schönen Worte gehen verloren

Zeit und Witterung verwischen die Spuren auf den sechs jüdischen Friedhöfen.

Düsseldorf. Immer wenn solche Anrufe wie der aus England kommen, lastet auf Wilfried Johnen die Hoffnung von Generationen. Nie kann er sicher sein, ob sie mit seiner Hilfe finden, wonach sie suchen, nach Spuren ihrer Familienangehörigen. In diesem Sommer jedoch, im Juni 2013, hatte der Geschäftsführer des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein das Glück auf seiner Seite. Bei dem Besuch des Gerresheimer Friedhofs an der Quadenhofstraße entdeckte das Ehepaar aus der Nähe von London tatsächlich die Grabstätte einer nahen Verwandten.

Solche erfüllenden Momente könnten bald der Vergangenheit angehören, denn die Gedenksteine sind vom Verfall bedroht. Wind und Regen setzen den meist aus Sandstein gefertigten Grabmälern zu, und das Efeu, dessen Wurzeln sich an dem Stein festsaugen, wächst ausdauernd; schon jetzt sind Inschriften nicht mehr zu entziffern.

Mit den Namen der Verstorbenen gehen auch die schönen Worte verloren, die - oft in Hebräisch - in den Stein gemeißelt sind. Eine fatale Entwicklung, denn die Texte geben wichtige Hinweise auf das Leben der Toten. Sie ehren die Soldaten, die „treu ihren Vätern starben für die Heimat“, und den weisen Rabbiner, „der nun geladen wurde in das Lehrhaus der Höhe“.

Historikerin Barbara Suchy beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte der Düsseldorfer Juden. Ein Rundgang mit ihr über einen der sechs jüdischen Friedhöfe ist wie der Besuch eines alten Kinos, das Schwarzweiß-Filme zeigt, die von Menschen mit klangvollen Namen handeln. Von Sally Goldschmidt, die an den Folgen des Novemberpogroms starb, von Bildhauer Leopold Fleischhacker, der ebenda Grabmäler und Fassadenreliefs schuf, von Jakob Rosenberg, mit dem, wie Suchy sagt, „die Zeit der akademisch gebildeten Rabbiner in Düsseldorf begann.“

Von Menschen also, die einmal ein konkretes Leben im vergangenen Düsseldorf hatten. „Wir sind es den Friedhöfen schuldig, dass wir sie und das Gedenken ihrer Toten bewahren“.

Im Sommer besuchte deswegen der Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Bastian Fleermann, den Alten Jüdischen Friedhof in prominenter Begleitung. Fleermann hatte Professor Michael Brocke dabei. Brocke ist Judaist und Leiter des Steinheim-Instituts für Deutsch-Jüdische Geschichte. Mit seiner Hilfe konnten hunderte jüdische Friedhöfe in Deutschland bereits detailliert erfasst werden: Gräber werden dabei fotografiert, Inschriften übersetzt, ein Lageplan wird erstellt. Mit einem speziellen Scanner kann Brocke zudem Inschriften wieder sichtbar machen, die mit dem bloßen Auge nicht mehr zu erkennen sind. Eine solche Dokumentation jedoch ist aufwändig. „Die Warteliste ist lang“, sagt Johnen. „Wann wir an die Reihe kommen, steht in den Sternen.“ Zumal auch die Finanzierung noch ungeklärt ist.

Zwölf jüdische Friedhöfe hat es in Düsseldorf einmal gegeben, von denen sechs verschwunden sind. Unter den verbliebenen birgt der Alte Jüdische Friedhof an der Ulmenstraße besonders interessante Zeugnisse der Stadtgeschichte. Er liegt zwischen Möhlau- und Esperantostraße unweit des Neuen Jüdischen Friedhofs, der Teil des Nordfriedhofs ist.

Der Alte Jüdische Friedhof wurde von 1877 bis 1922 genutzt. Neben den Ruhestätten aus dieser Zeit beherbergt er auch die sterblichen Überreste, die von dem jüdischen Friedhof an der Bongardstraße in Pempelfort (ab 1788) stammen. Dieses Gelände jedoch beanspruchte die Stadt 1877 für den Ausbau der Prinz-Georg-Straße, sie zwang die Gemeinde, den Friedhof aufzugeben, die Gräber wurden an die Ulmenstraße überführt.

„Das ist ein ziemlich einzigartiger Fall in der Geschichte jüdischer Friedhöfe“, sagt Barbara Suchy. Friedhöfe sind im Judentum Orte der ewigen Ruhe bis ans Ende aller Zeiten. „Aus Pietätsgründen schüttet man sie eher zu, als die Toten umzubetten“, erklärt Suchy. Dessen ungeachtet hat es in Düsseldorf solche Überführungen mehrfach gegeben. So zum Beispiel 1884, als man bei Kanalisationsarbeiten an der Kasernenstraße, wo sich einst Düsseldorfs ältester Friedhof befand, unter anderem den Grabstein von Heines Großmutter entdeckte. Er steht heute vor der Trauerhalle am Neuen Jüdischen Friedhof an der Ulmenstraße.