Einblicke in die Ukraine Eine Ukrainerin erzählt: „Jedes Telefonat könnte das Letzte sein“

Düsseldorf · Daria ist gebürtige Ukrainerin und lebt inzwischen in Düsseldorf, viele Verwandte und Freunde sind noch in der Heimat. Sie gibt Einblick in Erlebnisse und Bedürfnisse der Menschen in Kiew, in Cherson und auf der Flucht.

 Ein Einblick in die Städtische Kinderklinik #2, in der Darias Onkel arbeitet.

Foto: Daria Jablonowska

Mit zehn Jahren kam Daria gemeinsam mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland. Zurück bleiben Verwandte und Freunde – die jetzt in Gefahr sind. Seit Beginn des Krieges am vergangenen Donnerstag, 24. Februar, sind viele Menschen auf der Flucht, die Lage in den ukrainischen Gebieten ist unübersichtlich. Seit Tagen fallen Bomben, Schüsse sind zu hören, es kommt zu Straßenkämpfen; viele Menschen wurden bereits verletzt oder getötet. Am Telefon erzählt die inzwischen in Düsseldorf lebende Daria von den Erlebnissen aus ihrem Freundeskreis.

Einige sind auf der Flucht in Richtung Deutschland oder in die direkten Nachbarländer. Nach vier Tagen ist ihre beste Freundin mit ihrem Kind in Rumänien angekommen; 24 Stunden hat sie an der Grenze warten müssen. Sie ist direkt am ersten Tag losgefahren. Ein paar Stunden später, so vermutet Daria, wäre sie vielleicht gar nicht mehr aus Kiew herausgekommen.

Eine andere Freundin hat sich Richtung Polen auf den Weg gemacht. Die Grenze dort ist laut ihren Angaben überlaufen. Zwei Tage hat sie vor dem Grenzübergang in einer Menschenmenge gestanden, aus der man gar nicht wieder rauskam, ohne Essen, komplett übermüdet, keine Möglichkeit, zur Toilette zu gehen.

Doch einige ihrer Verwandten bleiben auch weiterhin in Kiew. Kontakt zu ihnen hält Daria telefonisch. Ihre Großmutter ist 85 Jahre alt und kann nur schlecht laufen. „Uns ist bewusst, dass jedes Telefonat unser letztes sein könnte“, erzählt Daria. Gerade ihrer Großmutter beizubringen, was gerade vor sich geht, gestaltet sich schwierig. „Für meine Oma, die den 2. Weltkrieg und seine Folgen miterlebt hat, ist es unvorstellbar, dass die Russen, mit denen man früher gegen die Nazis gekämpft hat, plötzlich die Ukraine angreifen.“ Inzwischen wohnen ihre Cousine und ihr Onkel in der Wohnung der Großmutter. Geflohen sind sie nicht. „Mein Onkel meint, er hätte gar keine Zeit, darüber nachzudenken. Er werde gebraucht – als Arzt auf einer Frühgeborenen-Station könne sonst niemand seinen Job machen.“

Mit ihm hat sie ein längeres Gespräch geführt über die aktuelle Situation in Kiew und auch darüber, dass viele notwendige Dinge für die Versorgung der Säuglinge im städtischen Krankenhaus fehlen. Für uns gibt sie wieder, was er erzählt hat: „Wir sind inzwischen das einzige Kinderkrankenhaus auf dieser Seite des Dnepr (der Fluss teilt die Hauptstadt Kiew, AdR). Alle Brücken sind unpassierbar, höchstens mit Sondergenehmigung kommt man noch auf die andere Seite der Stadt. Dadurch fehlen uns Mitarbeiter, rund die Hälfte ist ausgefallen. Viele andere sammeln wir mit dem Krankenwagen morgens ein, nicht wenige schlafen im Krankenhaus. Aktuell versorgen wir zwölf Frühgeburten bzw. Säuglinge mit gesundheitlichen Problemen. Sie brauchen Sauerstoff, werden per Sonde ernährt und liegen unter Wärmelampen. Normale Medikamente bekommt man aktuell mit viel Wartezeit in der Apotheke; auch die Grundversorgung ist noch sichergestellt. In einem externen Lager sind medizinische und andere Utensilien von uns untergebracht. Doch das Lager liegt in der Nähe eines Flughafens, der bombardiert wird.“

Seiner Nichte schickt er eine Liste mit Medikamenten und Technik, die benötigt wird, darunter Pulsoxiometer und Infusionspumpen. Für Daria ist dies eine Möglichkeit, zu helfen. Sie schreibt seither Hilfsorganisationen an, um die Materialien auftreiben zu können.

Ihre eigenen Gefühle beschreibt Daria als „wellenartig“. Zu Beginn habe sie sich gefühlt, wie auf einer Beerdigung: „Da war so eine komplette Leere und Machtlosigkeit in mir.“ Inzwischen wird es etwas besser, die Hilfsbereitschaft der Menschen, ihre eigenen Bemühungen und politische Hilfe würden es erträglicher machen.

Dennoch macht sie sich große Sorgen, die durch die Erzählungen von Betroffenen vor Ort, weiter geschürt werden. „Uns erreichen Hilferufe aus Cherson (Stadt am Schwarzen Meer, nahe der Krim, die am Mittwoch stark umkämpft und von der russischen Armee umstellt ist, AdR). Dort spielt sich eine humanitäre Katastrophe ab.“ Es gibt Berichte über etliche tote Zivilisten, Mangel an Lebensmittel und Medikamenten. Daria fordert daher, dass die Bemühungen der Politik intensiviert werden und weiter Druck ausgeübt wird, um einen „Grünen Korridor“ für humanitäre Hilfe sicherzustellen. „Auch hier in Deutschland kann jeder und jede mithelfen, indem sie sich solidarisch zeigen und etwa an Demonstrationen teilnehmen.“