Interview Familienberatung in Zeiten des Coronavirus: „Wir stellen uns auf eine große Problemlage ein“

Düsseldorf · Gerhard Vogel von der Caritas über eine Zeit, in der Familien wegen des Coronavirus zusammen rücken müssen. Lernen könnte man von Familien, die schon andere Extremsituationen gemeistert haben – etwa eine Flucht.

Zu Hause gemeinsam kochen: In vielen Familien ist das Alltag. Für andere aber nicht.

Foto: dpa-tmn/Christin Klose

Familie ist das Wichtigste, den Grundsatz würden geschätzt 90 Prozent der Düsseldorfer unterschreiben. Aber Familie kann auch anstrengend sein. Besonders in diesen Tagen ohne Schule oder Kita für die Kinder, mit Homeoffice für die Eltern, kurz: Mit deutlich mehr Präsenz aller Familienmitglieder zu Hause. Und die Situation könnte sich noch verschärfen, jetzt, wo es strengere Regeln zum Rausgehen gibt. Und noch mehr, sollte es – wie in anderen Ländern oder in einigen deutschen Städten bereits der Fall – doch noch eine Ausgangssperre geben. Die Erziehungs- und Familienberatungsstelle der Caritas hat schon reagiert und ihr Angebot auf den Telefonbetrieb umgestellt. Die drei Caritas-Erziehungsberatungsstellen mit je sechs Beratern werden gebündelt. Denn dass dies Zeiten sind, in denen es mehr Spannungen in den Familien gibt oder geben wird, da ist sich der Leiter der Caritas-Erziehungs- und Familienberatungsstelle Wersten, Gerhard Vogel, sicher.

Herr Vogel, warum sind es schwierige Zeiten für Familien?

Gerhard Vogel: Wir stellen uns aktuell auf eine große Problemlage ein. Die Familien haben jetzt seit einer Woche sehr viel mit der Betreuung der Kinder zu tun, der Kontakt zu den Großeltern muss neu gestaltet werden, und spätestens wenn der Freundeskreis auch nicht mehr aushelfen kann, kommen wir ins Spiel und müssen den Familien vermitteln, dass sie bei uns Ansprechpartner finden.

Gerhard Vogel ist der Leiter der Erziehungs- und Familienberatungsstelle Wersten.

Foto: Caritasverband Düsseldorf

Sie erwarten also, dass es mehr Streit geben wird?

Vogel: Ja, und das betrifft sowohl die Familien, die bereits vorbelastet sind und die wir bereits aus der Beratung kennen, aber auch Familien, die bisher keine Beratungsangebote in Anspruch genommen haben und sich eigentlich als „intakt“ verstehen. Aber die neue Situation ist für alle eine Herausforderung.

Warum ist sie das?

Vogel: Es geht um so viel Abstimmung. Wer geht einkaufen, wer darf wann an den Laptop, gerade jetzt, wenn die Kinder von zu Hause lernen müssen. Dadurch ergeben sich neue Reibungen und Spannungen. Ich glaube, dass nach acht bis zehn Tagen unter den jetzt geänderten Vorzeichen die meisten Familien an ihre Belastungsgrenze geraten. Und eine noch mal verschärfte Situation haben wir, wenn dann doch noch eine generelle Ausgangssperre kommt. Denn dann ist es plötzlich ein Privileg, einkaufen gehen zu dürfen. Sich nicht ohne weiteres von zu Hause entfernen zu dürfen, ist eine große Belastungsprobe für jeden einzelnen und vor allem für die Familie.

Wären Sie denn einer sprunghaft ansteigenden Anruferzahl gewachsen?

Vogel: Wir haben ja nicht nur die telefonische sondern auch die Online-Beratung. Und in beiden Bereichen erarbeiten wir gerade mit anderen Einrichtungen der Stadt oder dem Diözesanverband, wie wir Kräfte bündeln können.

Wie können sich Familien denn auf das Kommende vorbereiten und was hilft, Streit zu vermeiden?

Vogel: Es ist vor allem wichtig, dass sie wissen, wo sie sich Hilfe holen können. Wie bei uns. Die Familien, die wir schon kennen, wo es beispielsweise Vorbelastungen durch psychische Krankheiten, Migrationshintergrund, Patchwork-Strukturen oder Trennungssituationen gibt, wissen ja zumindest häufig schon von uns und anderen Hilfsangeboten. Die anderen Familien wollen wir auch über Social Media erreichen. Und dann gibt es ein paar Grundsätze, die das plötzliche Zusammenrücken zu Hause erleichtern. Ganz wichtig ist, dass es eine Struktur gibt. Rituale, wie gemeinsames Essen oder Spieleabende. Und dass Aufgaben im Haushalt klar verteilt werden.

Und wenn es knallt?

Vogel: Wichtig ist bei einem Streit, dass die Beteiligten nicht versuchen, ihn in der aufgeheizten Situation selber zu lösen. Das Kind soll sich dann zum Beispiel auf sein Zimmer zurückziehen dürfen, dann muss nur im Anschluss das Gespräch wieder aufgenommen werden. Dann aber ruhig und sachlich.

Was können Frauen und Kinder tun, die sich ohnehin in einer gefährdeten Lage durch Gewalt zu Hause befinden? Inwiefern ändert sich ihre Situation durch das ständige Zuhause sein?

Vogel: Wir empfehlen schon im Vorfeld spannungs-runterfahrende „Maßnahmen“, dazu kann gehören, dass man sich gut vernetzt mit Freunden, Angehörigen, um nicht isoliert mit einer Eskalation zu Hause konfrontiert zu sein. Vorbeugend zur Spannungsreduktion ist hilfreich, die häusliche Enge zu entzerren, in Konfliktfällen sollte es Ausweichmöglichkeiten geben, und es gilt: Erst miteinander reden, wenn man wieder runtergekühlt ist. Räumliche Entzerrung kann aber auch schon heißen, dass einzelne Akteure im Konflikt spazieren gehen. Paare sollten sich nicht allein an Konflikte herangehen, wenn schon die Erfahrung vorliegt, dass es ohne Moderation oder Mediation eskaliert. Für Gewalt in der Familie stehen Frauenberatung und andere Notfalldienste zur Verfügung, hierzu hat das Gesundheitsamt Düsseldorf einen Flyer, den man auch auf der Homepage abrufen kann. Und zur unmittelbaren Gefahrenabwehr dient natürlich auch das Einschalten der Polizei und des Bezirkssozialdienstes, die Polizei kann ein Näherungsverbot aussprechen. Als Beratungsstelle stehen wir genau für diese Situationen zur Verfügung und können auch als „Lotsen“ entsprechend weitervermitteln.

Wie schwierig wird diese Krise nun für alle Familien?

Vogel: Schwierig, aber sicher nicht unmöglich. Wir haben gute Vorbilder: Familien aus dem nahen Osten oder Nordafrika, die etwa geflüchtet sind, kennen solche Situationen gut. Auf engstem Raum zusammen zu sein, nicht genau zu wissen, was die Zukunft bringt, und trotzdem die Familie als das Wichtigste hochzuhalten. Denn das ist unumstößlich in diesen Gemeinschaften: Die Familie kommt an erster Stelle. Und dann erst der Einzelne. Es geht darum, solidarisch zu sein, zusammenzuhalten, weniger auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen. Das ist ja etwas, das uns die Coronavirus-Krise ganz allgemein lehrt. Und noch einen Punkt können wir uns von diesen krisenerprobten Familien abschauen: Auf die Älteren wird ganz besonders geachtet. Und da können alle kreativ werden. Hier kann Social Media natürlich mal eine sehr sinnvolle Rolle übernehmen. Skype oder andere Formen der Videotelefonie können helfen, dass der Opa sich nicht so alleine fühlt, wenn er aus Sorge vor einer Ansteckung nicht mehr besucht wird.

Ihre Sprechzeiten am Telefon beschränken sich auf die Woche. Am Wochenende gibt es keine Beratung?

Vogel: Wir sind ja keine Notfall-Nummer wie etwa die des Jugendamtes oder des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Aber wir werden unser Angebot der Nachfrage anpassen.