Flüchtlingschicksal: Vom Irak nach Gerresheim geflohen
Eine gutsituierte, christliche Familie kam in höchster Not aus Bagdad, um Frieden zu finden.
Düsseldorf. Es ist der 31. Oktober 2010, als die Familie von Nafa’a Matti beschließt, aus dem Irak zu fliehen. Der furchtbare Anlass findet weltweit Beachtung: Terroranschlag auf die syrisch-katholische Sayidat-al-Nejat-Kathedrale in Bagdad. Über 60 Menschen sterben, darunter zwei Priester — durch Maschinengewehrkugeln und Handgranaten einer Al-Qaida-Gruppe.
Vater Matti, seine Frau Elynoor und die erwachsenen Kinder Lina (26) und Luay (24) gingen oft zur Messe in diese Kathedrale. Doch an diesem Sonntag waren sie zum Glück daheim geblieben.
Am 24.12. feiern die vier Christen ihr erstes Weihnachtsfest fernab der Heimat — in einem Flüchtlingswohnheim an der Heyestraße in Gerresheim.
Zwei nicht sehr große Zimmer hat die Familie hier, Dusche und Klo sind auf dem Gang. In der Wohnküche gibt es Herd und Eisschrank, im Schlafzimmer einen Fernseher. Dort steht auch ein kleiner, geschmückter Weihnachtsbaum. „Zu Hause hatten wir immer einen, der bis unter die Decke reichte“, sagt der Vater stolz.
Zu Hause hatte die Familie aber auch ein großes Haus mit Garten und mehr als 600 Quadratmetern. Der Vater, jetzt 78, war Chemiker und Offizier in der irakischen Armee bis zum zweiten Golfkrieg. Seine Frau arbeitete als Übersetzerin, Tochter Lina war gerade Ärztin an einer Klinik in Bagdad geworden, ihr Bruder Luay ist gelernter Computertechniker.
„Wir hängen sehr an unserer Heimat, deshalb haben wir uns so schwer damit getan, alles aufzugeben, vor allem unsere Verwandten und Freunde“, sagt Lina in erstklassigem Englisch.
Doch irgendwann wird es für Christen im Irak einfach zu gefährlich. Lina bekommt das sogar in der Klinik zu spüren: „Kollegen und ich sind von Patienten und Angehörigen bedroht und geschlagen worden, wenn wir nicht mehr groß helfen konnten.“
Und dann bedrängt ein Familienclan in der Klinik die Ärztin, den Sohn eines Patienten zu heiraten. Sie setzen Lina immer bedrohlicher zu, eines Abends, am 27. Juni 2012, versuchen vier Männer, die 26-Jährige nach der Arbeit auf offener Straße zu entführen, das Sicherheitspersonal der Klinik kann gerade noch rechtzeitig dazwischengehen. „Von da an hatte ich irrsinnige Angst. Wir alle wollten nur noch weg, denn auf Schutz durch Polizei oder sonst wen konnten wir nicht hoffen.“
Doch einfach weg kann man nicht aus dem Irak. Christen werden zwar verfolgt, dürfen aber nicht ausreisen. „Außerdem hatten wir keine Reisepässe“, sagt Luay. Immerhin können sie zu früheren Nachbarn, die bereits in den Norden des Landes gezogen sind. Im Auto nehmen sie nur Kleidung, Papiere und Geld mit.
Das Geld sind sie bald los, denn vom kurdischen Grenzgebiet an übernimmt ein professioneller Fluchthelfer die Regie. Er besorgt Pässe und bringt die Familie zunächst nachts zu Fuß in die Türkei, dann per Auto nach Istanbul, am 15. Juli mit dem Flugzeug nach Frankfurt. Am 6. August schließlich kommen sie nach Düsseldorf. „42 000 US-Dollar hat uns das gekostet“, sagt Mutter Elynoor.
Sie haben fast alles aufgegeben, hier im Wohnheim ist ihnen nur das Nötigste geblieben. Der Vater liegt noch viel im Bett, vergangene Woche erst ist er in Düsseldorf operiert worden. Und doch wirkt die Familie aus Bagdad alles andere als verzweifelt. „Wir sind zufrieden“, sagt die Mutter, „vor allem weil die Leute alle so nett zu uns sind.“ Damit meint sie vor allem Menschen wie Sabine Hanstein, die Flüchtlingsberaterin der Diakonie, die oft zu ihnen kommt und hilft. Aber auch ihre neuen Nachbarn, darunter viele Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien: „Obwohl die Verständigung mit ihnen schwierig ist, man hält zusammen“, sagt Lina.
Wie geht es weiter? Das Asylverfahren für die Familie läuft, gewiss ist der Ausgang nicht, doch stehen die Chancen auf Anerkennung für Flüchtlinge aus Irak ganz gut.
Die Familie lernt eifrig Deutsch in Kursen. Den kargen Lebensunterhalt finanziert sie mit den Sach- und Geldbezügen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz. „Wir würden gerne sofort arbeiten“, sagen Lina und Luay — am liebsten natürlich in ihren erlernten Berufen. Bis dahin fahren sie ab und zu mit der Bahn in die Stadt, an den Rhein oder zuletzt zum Weihnachtsmarkt. „Düsseldorf ist eine schöne Stadt“, finden sie.
Am Weihnachtsabend geht es in den Gottesdienst, entweder in St. Margareta oder in die koptisch-orthodoxe Kirche am Pöhlenweg. Danach gibt es Chicken mit Reis und Gemüse — und eine kleine Bescherung. „Aber das Wichtigste ist, dass wir ohne Angst einschlafen können“, sagt Lina.