Düsseldorf Hartes Training gegen die Angst

Karsten Dahlem bringt den Jugendroman „Es bringen“ mit starken Worten ins Junge Schauspielhaus. Eine Uraufführung.

Foto: Sebastian Hoppe

Düsseldorf. Wenn Ma verschwindet, konzentriert Luis sich auf den Wärmeverlust, um die Sehnsucht nach seiner Mutter nicht zu spüren. Wenn Mas brutaler Freund ihn aus dem 15. Stock über den Balkon hält, zählt Luis die Satellitenschüsseln von gegenüber und kämpft gegen die Höhenangst. Wenn erster Freibadtag ist, muss alles und jeder nach Plan laufen - sonst ist die gesamte Saison versaut. Der 16-jährige Luis hat knallharte Regeln.

Um den Hals trägt er eine Trainer-Pfeife, mit der er sich selbst kommandiert. Er will Kontrolle, er will besser werden und vor allem will er kein Opfer sein. Doch sein Leben ist ein schwerer Gegner. Auf einem kleinen Podest steht dieser Junge (überzeugend: Dominik Paul Weber), der längst noch kein Mann ist, und erzählt. Dann springt er zurück in seinen Kreis. Luis und seine Kumpel saufen bis sie kotzen.

Sie schließen Wetten ab, wen er wohl für eine schnelle Nummer auf der Toilette abgeschleppt bekommt. Details sind gefragt, Geld wird gezahlt. Krass ist wohl das richtige Wort für die Sprache, die Regisseur Karsten Dahlem in seiner Bühnenfassung des Jugendromans „Es bringen“ den Zuschauern zumutet und sich bei seiner Uraufführung eng an die Vorlage der Autorin Verena Güntner hält. Doch 16-Jährige, denen via Smartphone jederzeit die Pornowelten des Internets offenstehen, wird das wenig schocken.

Ob Dahlem mit seinem Jugendslang den Ton so trifft, dass Jugendliche sich auf Luis und seine Welt einlassen? Schwer zu sagen. Bei der Premiere hat es funktioniert. Das zum Teil jugendliche Publikum hat gejubelt. Die drei Darsteller rotzen, rülpsen und rappen sich durch ihre mit weißer Plastikplane bezogene Turnhallenkulisse, wo jeder auf den allseits bekannten Holzbänken auf seinen Einsatz wartet.

Nie ist die Rangordnung so klar und grausam wie in dieser Szenerie aus dem Sportunterricht. Luis ist kein Loser. Dafür gibt es Marco, den Bernhard Schmidt-Hackenberg liebevoll darstellt ohne ihn zur Knallcharge werden zu lassen. Er steckt sich Socken, Bierdosen und sogar eine Schnapsflasche in die Hose - der Schein großer Männlichkeit ist entscheidend. Chef ist Milan (Philip Schlomm), der in langem schwarzem Mantel und dauerrauchend kein Zweifel an seiner Überlegenheit lässt. Sie halten sich gegenseitig in Schach. Und doch kann keiner ohne den anderen.

Wie kindlich die Bedürfnisse des 16-Jährigen sind, zeigt eine kurze sprachlose Szene: Luis putzt Ma die Zähne, dann sie ihm. Nur ein Moment der zarten Nähe, dann ist die Realität eine andere: Milan ist der neue Freund der Mutter, bei der Julia Dillmann der schmale Grat zwischen Schlampe, Schönheit und Opfer ihrer Umstände eindrucksvoll gelingt. Wenn Dahlem die Annäherung der beiden als Gesangsduett mit „I’m a creep, yeah I’m a weirdo“ von Radiohead inszeniert, ihn mit schweren schwarzen Flügeln und Bassgitarre, sie mit schwarzem Schleier und Samthandschuhen ausstattet, unterläuft er gekonnt peinliche Klischee-Zurschaustellung.

Es ist rührend zu sehen, wie Luis, starr vor Schmerz über den Verrat, sich zum Retter seiner Kindheit flüchtet: ein kleines Pony namens Nutella. Zu sehen ist es hier auf der kalten Mattscheibe eines alten Fernsehers. Und dann bietet ihm plötzlich das Leben die Möglichkeit zu wachsen, einfach so, ganz ohne hartes Training. Luis kann wieder atmen. Doch es wird wohl nur eine kurze Verschnaufpause sein.