Körper schonungslos präsentiert

Claire Cunningham zeigte ihre Performance im Tanzhaus NRW.

Foto: Hugo Glendinning

Von Weitem hört man metallisches Klappern von Gehhilfen. Wie ein Geist taucht Claire Cunningham aus dem Dunkel auf. Sie lehnt an der Wand der Kleinen Bühne. Und balanciert auf den Stöcken, dann wieder lässt sie sich tragen oder schwebt wie ein angeschlagener Vogel in die Bühnenmitte.

Immer neue geheimnisvolle Bilder entstehen, wenn die 40-jährige Schottin über den Boden kriecht, sich mit viel Kraft aufrichtet oder eine Bach-Kantate singt. Claire Cunningham, die seit ihrer Kindheit an Osteoporose und Gelenkversteifung leidet und sich stets an Krücken fortbewegt, ist ausgebildete Sängerin und avancierte in den letzten Jahren zu einer ungewöhnlichen Performerin. Sie gehört neben Ligia Lewis (aus der Dominikanischen Republik) und Choy Ka Fai (aus Singapur) zu den neuen „Factory Artists“ des Tanzhauses NRW. Und wird in den kommenden zwei Jahren auf der Erkrather Straße Stücke entwickeln und ihr Wissen in Workshops weitergeben.

Einen Kurs gab sie bereits am letzten Wochenende für Menschen mit und ohne Behinderung. Überraschend, dass ausgerechnet in dem Haus, in dem überwiegend Menschen ohne Handicap trainieren, eine Frau ihre angeborenen Gebrechen zum Thema macht. So auch im neuen Stück „Give me a reason to live“ (Gib mir einen Grund zu leben), das erstmals hier zu sehen war.

Es geht um apokalyptische Visionen, die der Renaissancemaler Hieronymus Bosch auf seinen Bildern entwickelte. Dort erscheinen häufig die Ärmsten der Gesellschaft als Behinderte. So stellt sie in dem Solo schonungslos ihren Körper der Betrachtung aus. Hautnah erlebt man, welche Mühe sie beim Laufen, Stehen, Knien und Aufstehen hat. Sie wimmert, ächzt und atmet schwer. Wenn sie sich bis auf die Unterwäsche entkleidet, erkennt man ihre Beine, mit und gegen die sie stets zu kämpfen hat.

Erstaunlich sind die Tableaus, in denen sie sich auf die Gehhilfen stützt und die Beine schwingt. Dann läuft sie rückwärts und hängt sich in die verlängerten Stöcke, um eine Kantate zu singen. Hier dominieren Klänge von Bach, zuvor untermalte eine suggestive Sound-Kulisse von Klangkünstlerin Zoe Irvine die Performance.

So reißt Cunningham den Zuschauer aus seinen Sehgewohnheiten, vermittelt dadurch auch eine politische Botschaft. Denn als Choreographin widmet sie das Stück von knapp 50 Minuten den Opfern der nationalsozialistischen Euthanasieprogramme und der Sozialhilfe-Kürzungen im heutigen Großbritannien. Bei allem Vorbehalt vor Darbietungen, in denen Künstler ihr körperliches Gebrechen dar- und ausstellen und so politisches Engagement demonstrieren wollen: Die Performance verändert den Blick des Zuschauers. Da gibt es kein Entweichen.