Ausstellung K21: Künstlerin Banu Cennetoğlu archiviert die Gegenwart

Düsseldorf · Die Türkin versucht, die Totale der jeweiligen Gegenwart in Hunderte von Zeitungsausgaben zu bannen.

Konzeptkunst in der Bel Etage von K21: Banu Cennetoğlu hat Zeitungen ausgebreitet. Teile der Fenster sind mit Farbfolien beklebt.

Foto: Achim Kukulies

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Dieses Sprichwort kehrt Banu Cennetoğlu in ihr Gegenteil um. Sie muss es tun, denn sonst wäre ihre mehrjährige Arbeit für den Papiercontainer bestimmt. In der Bel Etage von K21, dem schönsten, lichtvollsten Raum der Kunstsammlung am Kaiserteich, breitet die Türkin ihre alten Folianten aus. Der Besucher darf darin blättern und sich selbst einen Reim machen, welche Zeitung ein Ereignis wie bewertet. Dabei geht es der 49-Jährigen gar nicht so sehr um Selbstverständlichkeiten in den Redaktionen, sondern um die medialen Bedingungen heutiger Informationsgesellschaften.

Schwarze Luftballons segeln über den alten Folianten

Täglich erscheinen 323 deutsche Tageszeitungen mit 1452 lokalen Ausgaben in einer gedruckten Gesamtauflage von 14 Millionen Exemplaren. Banu Cennetoğlu erklärt, sie habe sechs Monate zugebracht, um den Erhalt aller Zeitungen an einem willkürlich gewählten Tag zu garantieren. Seit 2010 archiviert sie an so einem Stichtag alle verfügbaren lokalen und nationalen Zeitungen eines Landes.

Banu Cennetoğlu stellt im K21 aus.

Foto: Achim Kukulies, @ Kunstsammlung NRW

Über den Folianten segeln 23 schwarze Luftballons direkt unter der Decke. Sie bilden die Wortfolge „Ich weiß zwar, aber dennoch“. Die Kuratorin Anna Goetz muss erklären, was es damit auf sich hat: „Sie verweisen auf das psychologische Phänomen der Verleugnung, wie es der französische Psychoanalytiker und Ethnologe Octave Mannoni im Anschluss an Sigmund Freud formuliert hat.“ Der Satz beschreibt das bewusste Ausblenden von Fakten, um die wir wissen, die wir aber dennoch nicht zur Grundlage unseres Handelns machen. Interessant ist natürlich zu wissen, dass diese nicht nur mit Klugheit, sondern auch mit Helium gefüllten Ballons im Laufe der kommenden vier Monate bis Ausstellungsende ihre Kraft und ihre Höhe verlieren und sich schließlich selbst verflüchtigen, indem sie saft- und kraftlos auf dem Boden liegen.

Auch die drei Farbfolien in Gelb, Rot und Grün über Teilen der Fenster machen nur dann einen Sinn, wenn die Erklärung beigefügt wird, denn Konzeptkunst macht es dem Besucher nicht einfach. Die Farben gelten nicht nur der Ampelfolge an Verkehrskreuzungen, sondern sie können zumindest in der Türkei auch polarisieren. Dort wurde in den 1990er Jahren diskutiert, die Farbfolge zu ändern, um sie nicht mit dem Kurdenkonflikt in Verbindung zu bringen.

Bleibt der Film im letzten, verdunkelten Raum. Er entstand 2006 bis 2018, umfasst sämtliche Fotos und Videos, die Banu Cennetoğlu mit dem Handy aufnahm oder gesendet bekam. Zuweilen lieh sie auch Dritten ihre Kamera, damit sie selbst im Video auftauchen konnte. Alles erscheint nun als zusammengewürfelte Diaschau. Da es keinen Ausschuss gibt, kommen Wichtiges und Unwichtiges, Verwackeltes und gute Bilder zur Ansicht.

Es beginnt mit ihrer Schwangerschaft. Später wird die Tochter Geburtstag feiern, während andernorts ein Kind zu Tode kommt. Es geht ihr aber nicht nur um ein Potpourri, sondern auch um ihr Projekt „The List“. Dabei arbeitet sie mit dem europäischen Netzwerk für interkulturelle Aktion zusammen, das sich gegen Nationalismus, Rassismus und Faschismus wendet und für die Unterstützung von Einwanderern und Flüchtlingen plädiert. Deshalb veröffentlicht Cennetoğlu seit 2006 eine Liste aller verfügbarer Daten über Migranten, die seit 1993 an den EU-Außengrenzen zu Tode kamen. Alle Daten tauchen in Momentaufnahmen auf.

K21 hofft natürlich auf viele Besucher. Die sind schon deshalb möglich, weil das audiovisuelle Archiv 127 Stunden, 14 Minuten und 44 Sekunden oder 22 Ausstellungstage dauert. Wer die Totale liebt, muss wiederkommen. Vielleicht gelingt ihm ja auch, jenen Brennpunkt zu finden, wie man ihn aus der geometrischen Optik kennt. Denn Kunst sollte mehr sein als das Aneinanderreihen von Fragmenten, zu denen auch ein Schwoof mit Documenta-Kurator Adam Szymczyk gehört. Autofahrer verwenden für das leichte Erreichen ihres Ziels einen Navigator. Der wäre bei Banu Cennetoğlu sicherlich auch sehr hilfreich.

Info: Bis 10. November, Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, Samstag und Sonntag ab 11 Uhr. Zeitgleich sind „Orbit“ und Ai Weiwei offen. Ticket 12, 10 + 2,50 Euro, Kombiticket K20 + K21 18, 14 + 4 Euro