Theater-Premiere Premiere im Düsseldorfer Central: Kleinbürger-Drama im Kasten

Düsseldorf · Klaus Schumacher inszeniert Hebbels „Maria Magdalena“ wie eine Museums-Performance.

Kleinbürger-Welt im weißen Kasten: Klaus Schumacher inszeniert „Maria Magdalena“ im Central.

Foto: Sandra Then

Auf der Bühne steht ein weißer Kasten. Mit Treppen und Brunnenschacht. In dem Kasten hängt ein Kleid, in blau-violettem Licht. Wie ein Ausstellungsstück in einem White Cube. Am Kasten befinden sich Knöpfe und Lautsprecher. Drum herum Bänke und Stehtische in Beton-Optik. Auf dem Dach steht Musiker Tobias Vethake mit E-Gitarre  und E-Cello. Er wird zwei Stunden lang von dort oben den Sound zur Aufführung liefern. Auf einmal schreitet eine Besuchergruppe heran, heutig bekleidet in Hosenanzug und Pumps oder Pullover und Sneakers. Mit einem Guide in der Hand erblicken die Besucher das Kleid und beginnen daraus vorzulesen: „Dein Hochzeits-Kleid? Ei, wie es dir steht! Es ist, als ob‘s zu heut gemacht wäre!“ Die Besucher laufen zum Kasten, spielen mit den Knöpfen, über die sie den White Cube in immer neue Farben tauchen: gelb, pink oder blau. Wenig später steigt eine Besucherin im Nebelrauch die Treppen hinab in den Kasten, gehüllt in das Kleid, das eben noch von der Decke baumelte. Sie hat sich nun in Therese verwandelt, die Frau von Tischlermeister Anton, gespielt von Tanja Schleiff. Eine andere Besucherin – gemimt von Cennet Rüya Voß – ruft Therese nun zu: „Dein Hochzeits-Kleid? Ei wie es dir steht! Es ist, als ob‘s zu heut gemacht wäre!“ Sie wird alsbald auch im Kasten auftauchen, als Klara, Tochter von Therese und Anton, im biedermeierlichen Krinolinenkleid. Friedrich Hebbel hat sie zur Hauptfigur seines Dreiakters „Maria Magdalena“ gemacht, der am Samstagabend auf der Kleinen Bühne im Central Premiere feierte.

Bühnenbildnerin Katrin Plötzky hat einen Raum im Raum installiert: steril, clean, klein. Er versinnbildlicht die enge Kleinbürgerwelt des 19. Jahrhunderts, in der Friedrich Hebbel sein bürgerliches Trauerspiel angesiedelt hat – es gilt als das letzte in Deutschland, bevor das soziale Drama en vogue wird. Eine Welt des aufstrebenden Bürgertums, in der Werte wie Ehre und Glaube dominieren, eine Welt, die weit weg von unserer Gegenwart zu sein scheint. Um von heute auf diese vergangene Welt zu blicken, lässt Regisseur Klaus Schumacher das Untergangsdrama auf einer Bühne auf der Bühne spielen, in einem Guckkasten. Schumacher spielt mit einer Beobachtung zweiter Ordnung: Das Publikum beobachtet, wie die Besucher auf der Bühne das Geschehen im weißen Kasten beobachten. Theater als Kunstraum, nicht als realistischer Raum – so lautet auch Klaus Schumachers Credo. Das Konzept für seine erste Inszenierung am Düsseldorfer Schauspiel ist spannend und schlüssig. Die Akteure vollführen im „White Cube“ eine Live-Performance, in die sie zugleich als Besucher von außen eingreifen können.

Inspirieren ließ sich das Regie-Team von Marina Abramović und ihrer Performance „Rhythm 0“. 1974 lieferte sich die serbische Performance-Großmeisterin im Studio Morra in Neapel sechs Stunden den Galeriebesuchern aus. Dem Publikum standen 72 Gegenstände zur Verfügung, die sie beliebig gegen die Künstlerin einsetzen konnten. Die Besucher stachen ihr Nadeln in die Haut, ritzten ihr mit dem Messer in den Hals und saugten ihr Blut, ein Mann legte ihr gar eine geladene Pistole in die Hand, hob sie an ihren Hals und legte einen Finger an den Abzug, bis das Publikum eingriff und den möglichen Schuss vereitelte.

Die Schauspieler wirken zunächst völlig „von der Rolle“

Doch so spannend und schlüssig Schumachers Regie-Konzept auch ist, die Schauspieler können es zunächst nicht mit Leben füllen. Oder sollen sie es nicht? Tischlermeister Anton tyrannisiert seine Familie mit einem überzogenen Ehrbegriff, er verlangt Fleiß, Disziplin, Gottesehrfurcht und stellt den sozialen Ruf über alles, ohne Liebe und Vertrauen zu seinen Kindern. Als sein Sohn Karl beschuldigt wird, bei Kaufmann Wolfram Juwelen gestohlen zu haben, klagt ihn der Vater mit an, doch Karl erweist sich schließlich als unschuldig. Antons Frau Therese stürzt dieser fälschliche Verdacht jedoch jäh in den Tod, was Anton wiederum gleichgültig hinnimmt. Klara droht er gar mit Selbstmord, falls sie ihm Schande bereiten sollte. Jan Maak verleiht dem Familienpatriarchen aber keine innere Spannung, ohne Leben, sein von Härte und Kälte gezeichnetes Wesen wird nicht spürbar.

Leonhard ist ein schleimiger, rückgratloser, skrupelloser Widerling, der Klara schwängert, sie aber nicht heiraten will, als er von seinem potenziellen Schwiergervater erfährt, dass er die Mitgift verschenkt habe. Aber Christof Seeger-Zurmühlen mimt Leonhard als bloßen Textwiederkäuer, als wäre er gelangweilt von sich selbst.

Ähnlich blutleer gibt Tanja Schleiff Antons Frau Therese, die aber ohnehin bald aus dem Leben scheidet. Allesamt wirken sie wie „von der Rolle“. Klara (Cennet Rüya Voß) und Karl (Alexej Lochmann) wirken zwar näher bei ihren Figuren, mehr aber auch nicht.

Lediglich Musiker Tobias Vethake und Lichtregisseur Konstantin Sonneson gelingt es, bewegende Momente zu erzeugen. Etwa, als Therese stirbt. Schrebbeliger, düster-dramatischer Sound ertönt, der weiße Kasten wird zum Sarg im Stroboskop-Geflacker.

Erst nach Thereses Tod befreien sich die Schauspieler allmählich aus ihrer Lethargie und erwecken die Figuren-Puppen zum Leben. Anton brüllt Klara an, weil er genervt ist von ihrer „Leidensmiene“, die sie nach Leonhards Abfuhr an den Tag legt, und erpresst seine Tochter nun als inhumaner Gebieter: Keine Schande, oder ich rasiere mir die Kehle durch! Cennet Rüya Voß macht Klaras Verzweiflung und den immer stärker werdenden Drang zum Freitod fühlbar, wobei sie das Leid viel zu häufig mit brüchiger Stimme ausdrückt und dadurch arg pathetisch werden lässt. Eine berührend schöne Szene gelingt ihr zusammen mit Jugendliebe Friedrich (Henning Flüsloh), als sie zusammen ihre heiteren Kindertage mit Fliegenklatschen und Blindekuh-Spiel aufleben lassen. Ein Moment der Hoffnung und Rettung aus der Tragödie deutet sich an.

Auch Chistof Seeger-Zurmühlen verleiht Leonhard nun eine lebendige, karikatureske Note. Eine der stärksten Szenen ist sein Kampf gegen Widersacher Friedrich, der ihn zum Pistolen-Duell auffordert. Leonhard versucht sich ihm durch slapstickhafte Körperverrenkungen zu entziehen: Er biegt seinen Körper kopfüber zur Wand, rutscht über den Boden oder klatscht kopfüber ins Brunnenwasser. Eine komische Szene, die allerdings nicht so recht in die Tragödie passen will, die mit Klaras Selbstmord endet. Machen sich die beiden Rivalen über den übetriebenen Ehrenkodex in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts lustig? Möglich. Oder nehmen die beiden den Kampf um ihr Subjekt der Begierde, Klara, nicht ernst? Und ziehen damit eine Parallele zum Stand der Frau in der heutigen Gesellschaft, um den es trotz feministisch-emanzipatorischer Bestrebungen immer noch nicht gut bestellt ist? Man denke nur an ungleiche Gehälter zwischen den Geschlechtern in der Arbeitswelt oder an die ziemlich spät losgelöste #Metoo-Debatte.

Die Slapstick-Szene steht paradigmatisch für das gesamte Stück: Die Schauspieler machen nicht recht klar, wie sie Hebbels Kleinbürger-Drama präsentieren sollen. So distanziert, dass alle Akteure wie leblose Puppen wirken, ganz nah bei den Figuren oder ironisch distanziert? Schumacher lässt alle Haltungen zu und stiftet somit Verwirrung. Und lässt den Zuschauer mit Fragen zurück. Aber das ist ja auch produktiv.

Nächste Aufführungen am 7.5. und 21.5 um 20 Uhr im Central, Kleine Bühne, Worringer Str. 140.