Kammermusik Warum wir mehr über Kammermusik nachdenken sollten
Düsseldorf · Elisabeth Leonskaja und das Jerusalem Quartet zeigten in der Tonhalle, was Kammermusik wirklich kann.
Unter Freunden von Kammermusik gibt es manche gerne – vielleicht auch mal bei einem guten Wein – immer wieder weitererzählte Geschichte. Aus Zeiten, als Streichquartette noch Charakter hatten, mit der Musik zu sprechen verstanden, Klänge so formten, dass eine vollkommene Mischung aus individuellem Gestus, Dienst am Werk des Komponisten und einem wahrhaftigen Dialog zwischen den Interpreten entspross. Geschichten von Pianisten und Pianistinnen, die es verstanden mit ihrem Instrument zu singen – ihr Klavierspiel so zu gestalten und die Töne so zu formen, dass musikalische Linien einen Zusammenhang hatten, die es verstanden, Nuancen je nach Anforderungen des Werkes derart herausarbeiteten, dass die Idee der Musik nicht durch äußerlichen Effekt überdeckt wurde, und sie immer durch die Persönlichkeit des Klangs hindurchschien.
Manche mögen behaupten, dass es solche Interpreten, solche Erlebnisse in der Sphäre der Kammermusik immer seltener gibt, weil Musikern vielleicht heute wichtiger sei, sich als Virtuosen zu präsentieren, weil ihnen wichtiger sei, mit einer ganz persönlichen Art des Musizierens dem Publikum immer wieder neue Reize zu liefern, weil sie verlernt hätten an gute Traditionen anzuknüpfen. Wiederum andere mögen einwenden, dass es eh irrig sei, sich zu viele Gedanken um eine solche Nische wie Kammermusik zu machen. Welch Irrtum!
Das Konzert war paradigmatisch für Kunstmusiktradition
Wenn man die Begeisterung des Publikums bei dem jüngsten Kammerkonzert auf sich wirken lässt – tritt die Tonhalle als Veranstalter auf, so nennt man diese Konzerte „Raumstation“, weil sie früher separat im Robert-Schumann-Saal gespielt wurden – und es waren Besucher aus allen Generationen und die Tonhalle war durchaus sehr gut besucht, so müssen Unkenrufe verstummen. Unkenrufe nach dem Motto – früher sei alles besser gewesen, wie oben beschrieben – verwies das Konzert im Mendelssohn-Saal in die ihnen zustehende Ecke. Wieso?
Weil wir an diesem Abend ein Konzert erlebten, das beispielhaft für all das gelten kann, was unsere Kunstmusiktradition ausmacht – muss man auch nicht mit jeder interpretatorischen Entscheidung der Interpreten d’accord gehen und kann man auch über diese oder jene Stelle streiten. Sowohl das Jerusalem Quartet – bestehend aus Alexander Pavlovsky (Erste Violine), Sergei Bresler(Zweite Violine) Ori Kam (Viola) und Kyril Zlotnikov (Cello) – als auch die Pianistin Elisabeth Lonskaja zeigten durch ihr Spiel auf beeindruckende Weise, wie lebendig Kammermusiktradition und ihre zeitlosen Tugenden heute noch sind, und wie mitreißend Kammermusik sein kann, wenn sie authentisch und mit musikalischem Ethos vorgetragen wird.
Die vier Streicher verstanden es, eben jene Mischung heranwachsen zu lassen, die gute Streichquartette immer schon ausgezeichnet hat. Sie interpretierten Mozarts melancholisch gefärbtes Quartett d-Moll KV 421 einerseits mit einer ganz individuellen Note, die das Grüblerische, das gedimmt Düstere in einen zeitlos-qualitätsvollen Klang packte, zeitgleich mit viel Sinn für Mozarts Tonsprache, ohne aber auf der Oberfläche künstlich „historisch“ sein zu wollen. Auch in Erwin Schulhoffs „Fünf Stücke für Streichquartett“ bewiesen sie, dass sie trotz ihrer eigenen Note, einen herb-samtenen, aber wunderbar homogenen Klang, die Anforderungen des Werks immer an erster Stelle stehen lassen. Wenngleich in den tänzerischen Sätzen mehr düstere Vorahnung mitschwang, eine Vorahnung an eine tieferliegende sehr ernste Ebene unter der extrovertierten Exzentrik. Just diese Vielschichtigkeit zeichnet ein gutes Streichquartett aus.
Leonskaja gesellte sich zu den Streichern bei Dvořáks Streichquartett A-Dur op. 81. Ein leidenschaftliches Stück romantischer Musik, die viele Einflüsse in sich amalgamiert und sie mit einem ordentlichen Schuss böhmischer Seele durchtränkt. Musik, die von dem Wechsel zwischen volkstümlichen Anklängen, die mehr durchscheinen als durchstechen, und romantischem großen Gestus lebt. Dies bildeten die Streicher des Jerusalem Quartet genauso kongenial ab wie Leonskaja, die eben nicht zu jenen Pianistinnen gehört, die durch stupides perkussives Geschäume auffallen und durch überlaute Akzente ihr Primat im Quintett voranstellen wollen. Jede Phrase hat Sinn bei der 74-jährigen Pianistin.
Mal streichelt sie ihr Instrument mit sanft dahingeworfenen Akkorden, mal fokussiert sie geschmackvoll auf einzelne Passagen, die sie wie mit Engelszungen in goldenem Glanz singen lässt. Beispielsweise im zweiten Satz, der Dumka, in dem sie passagenweise derart mit ihrem Flügel zu singen verstand, dass man fast vergessen hätte, dass hier Tasten niedergedrückt werden. Ein Legato, das herausragender nicht sein kann, das eine Aura an Obertönen heraufbeschwor.
Und ja, es gibt sie noch, diese Momente, in denen man spürt, dass Kammermusik lebendiger denn je ist, es gibt sie noch, die Interpreten, die übrigens ihr Wissen an die junge Generation weitergeben, die es vermögen, mit ihrer Musik zu sprechen und dabei nicht hohle Phrasen zu dreschen. Dass es für ein derart entzückendes Konzert Jubel gab, das die Interpreten mit einer Zugabe dankten, versteht sich von selbst. Dass man sich um Kammermusik – auch im Jahre 2019 – Gedanken machen sollte, leider nicht mehr. Aber manchmal muss man halt ein bisschen Punk sein und gegen den Mainstream agieren.