Reportage Die Jungs von der Bismarckstraße

Düsseldorf · Auf den Klos zweier Düsseldorfer Schwulenkneipen verdienen sich junge Stricher ihren Lebensunterhalt. Eine Realität, in die die meisten kaum Einblick haben.

Die Sozialarbeiter auf dem Weg zu ihren Klienten in der Stricherszene.

Foto: Roman Winkelhahn

An der Kneipenwand hängt ein großer Spiegel – so groß, dass sich alle, die im Raum sitzen, darin sehen können. Es gibt nur eine Toilette, die für Männer. Es gibt einen Mann hinter der Theke, der diese Schwulenkneipe seit 15 Jahren betreibt: Hier soll er Rudi heißen, denn er will keine Aufmerksamkeit erregen – vor allem nicht beim Ordnungsamt. Und es gibt genau eine Kaffeemaschine, die heute allerdings kaputt ist. Zwei Gruppen von Menschen kommen in Rudis Bar. Diejenigen, die auf dem rosa beleuchteten Klo ihr Geld verdienen, und die, die es ausgeben. Die 18- bis 20-jährigen Osteuropäer und die alten Männer mit den teuren Uhren. Die Stricher und die Freier. Sie tummeln sich auf dem schmalen Gang, der zwischen Theke und Tischen zu den Toiletten führt.

Zwischen ihnen steht Nico Hensgens, 23 Jahre alt, groß und mit zottiger Frisur. Er studiert Soziale Arbeit in Düsseldorf. „Brauchst du Kondome?“, fragt er einen der jungen Männer. „Ich nehm’ hundert“, scherzt der und streckt die Hand aus. Die brauche er nur für seine Freundin, sagt der Stricher. Wenige geben zu, dass sie Sexarbeit leisten. Die meisten der Männer sind nicht einmal schwul. Manche haben bereits Familie – in Deutschland oder in der Heimat. Etwa 90 Prozent der jungen Stricher in Deutschland sind nicht hier geboren. Viele kämen aus Südosteuropa, vom Balkan, aus Albanien oder Rumänien, erklärt Roman Sylejmani. Der 25-Jährige ist Sozialarbeiter und studiert Psychosoziale Beratung im Master. Er leitet das Projekt „Aufwind“ des Düsseldorfer Sozialhilfevereins „Flingern mobil“. Vor rund 18 Jahren wurde die Initiative gegründet, 2015 bezuschusste die Deutsche Fernsehlotterie das Projekt mit 100 000 Euro. Sylejmani und sein Kollege Hensgens haben es sich zur Aufgabe gemacht, Ansprechpartner und Helfer auf dem Strich zu sein.

Ihren Einsatz beginnen Hensgens und Sylejmani im „Mobilé“, dem Kontakt-Café des Vereins. Am frühen Abend essen sie dort Pommes. Von den Strichern kommt niemand zum kostenlosen Abendessen, das hier mittwochs und freitags angeboten wird. Zeit ist Geld: „Manche Jungs kommen nicht her, um drüben in den Kneipen keinen Freier zu verpassen“, erklärt Sylejmani. Deshalb gehen die Sozialarbeiter zu ihnen.

Um 20 Uhr verlassen die beiden mit einer Umhängetasche das Büro und machen sich auf den Weg in Richtung Bismarckstraße, Ecke Charlottenstraße. Die Charlottenstraße wird in Düsseldorf auch die „Rue“ genannt, eine Anspielung auf die allnächtliche Straßenprostitution.

„Wir haben immer Bonbons und Kondome dabei“, erklärt Sylejmani. Mittlerweile sind sie in einer Kneipe angekommen. Die Bonbons seien Eisbrecher, genau wie der Smalltalk. Regelmäßig kommen die zwei mit Strichern und Freiern ins Gespräch. Man kennt sich. Die alten Männer fragen nach Sylejmanis Studium, geben mal eine Cola aus, stöhnen und beschweren sich darüber, wie schwer doch das Leben sei. Neben ihnen, auf einem Bildschirm über der Klotür, wechseln sich Landschaftsmotive ab. Jedes Mal, wenn jemand hineingeht, spiegeln die weißen Fliesen an den Waschbecken ein grelles rosa Licht in den Schankraum. Im Hintergrund dudelt ABBA: „Gimme, gimme, gimme“.

An einem gut besuchten Freitagabend sind 30 bis 50 Stricher in den Szenekneipen unterwegs. Nach einer Faustregel, die Roman Sylejmani mal aufgestellt hat, sitzen jeden Abend etwa zehn Freier mehr in den Kneipen als Stricher. Wie viele Stricher es insgesamt in Deutschland gibt, ist nicht bekannt.

Die meisten der zahlenden Männer seien „gut betucht“, sagt der Sozialarbeiter. Den jungen Sexarbeitern hingegen fehle die Perspektive. Manche leben bei ihren Eltern, einige seien wohnungslos. Viele der Stricher leben in anderen Städten und kommen nachts her, weil sie hier niemand kennt. Zu groß sei die Angst, dass etwas zu den Eltern durchdringen könnte, erklärt Roman Sylejmani. Prostitution und Homosexualität sind in den Ländern, aus denen die meisten der Männer kommen, illegal oder werden stigmatisiert.

Über das Leben der jungen Männer nach ihrer Zeit auf dem Strich ist nur wenig bekannt. Viele sind auf Sozialleistungen angewiesen, da sie häufig nie den richtigen Einstieg in die Arbeitswelt gefunden und in ihren Herkunftsländern kaum Ausbildung erfahren haben. Manche würden eine Ausbildung beginnen, viele diese wieder abbrechen, erklärt Sylejmani. Auch die Tatsache, dass sie auf dem Strich – mehr oder weniger leicht – viel Geld verdienen können, halte viele Männer von der Überlegung ab, eine Ausbildung zu machen. „Was hast du da?“, fragt Sylejmani einen der Stricher, die gerade in die Kneipe gekommen sind. „Kopfhörer für meine Freundin. Habe ich heute gekauft“, antwortet er. „Und was kosten die?“ Der Junge dreht den kleinen weißen Karton in seinen Händen. „So 160 Euro.“ „Schenkt sie dir denn auch mal was?“, will Sylejmani wissen. Nein, aber das sei in Ordnung: „Ich will nur, dass sie mich liebt.“

Amtlich gemeldet ist hier kaum jemand. Sozialarbeiter Sylejmani geht von rund zwölf Strichern aus, die gemäß des Prostituiertenschutzgesetzes registriert sind und einen – auch die Streetworker hadern mit diesem Begriff – „Hurenpass“ besitzen. So wird umgangssprachlich die Anmeldebescheinigung für Prostituierte genannt. Eigentlich muss diese nämlich bei einer Kontrolle durch das Ordnungsamt vorgelegt werden. Das bedeute aber auch, erklärt Sylejmani, dass Stricher eine Geldstrafe bekommen können, wenn sie in der Innenstadt erwischt werden. Eigentlich ist die Gegend um den Düsseldorfer Hauptbahnhof nämlich Sperrgebiet. Straßenprostitution ist hier verboten.

Es gebe nachvollziehbare Gründe, weshalb sich die jungen Stricher nicht beim Amt melden: Wer registriert ist, den kenne das Finanzamt, sagt Sylejmani. „Personen, die von der Prostitution abhängig sind, werden keine Steuererklärung abgeben“, erklärt der Streetworker. Außerdem seien auch Sprachbarrieren ein Grund dafür, dass die Stricher nicht zum Amt gehen. Noch viel größer als die Angst vor Missverständnissen oder der Steuereintreibung sei die vor dem eigenen Umfeld: Wer sich registriert, bekommt Post. Und so ein Brief, dem eine Anmeldebescheinigung beiliegt, kann schnell zum ungewollten Outing vor Familie oder Freunden führen.

Ein anderer Junge schaut ihm über die Schulter, in der Hand hält er ein Schnapsglas. Der Pfefferminzgeruch mischt sich mit seinem Parfum. Roman Sylejmani gibt ihm die Hand. Die beiden unterhalten sich. Der Sozialarbeiter will von dem jungen Mann wissen, ob er außer Alkohol noch andere Drogen nimmt. „Ne, also manchmal auch hier … ne?“ Er hält sich zwei Finger an die Lippen und ahmt einen Joint nach. „Aber Koks und so? Mach ich nicht“, sagt er. Seine Finger wandern über den Oberlippenbart an seine Stirn. Er tippt sich an den Kopf. „Ne, ne.“ „Man kann grob sagen, dass hier jeder kifft“, sagt Streetworker Sylejmani. Kokain würde auch konsumiert, meistens, „wenn Freier eine Runde schmeißen“. Das nähmen die Stricher, um länger wach bleiben zu können.

Ein viel größeres Problem als der Drogenkonsum sei die allgemeine gesundheitliche Situation der Männer: Die wenigsten hätten eine Krankenversicherung, da sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus‘ nicht beruflich in Deutschland tätig sein dürften und somit weder über den Arbeitgeber noch über das Jobcenter abgesichert seien. Keiner der Stricher besuche regelmäßig einen Arzt. Zwar bedeute das längst nicht, dass alle Stricher krank sind, das Risiko bestehe aber durchaus – dessen seien sie sich bloß nicht bewusst.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sitzt ein bärtiger Parkhauswächter in seiner Kabine, trinkt Kaffee und knabbert Salzstangen. Regelmäßig kommen hier Freier und Stricher vorbei und verschwinden in den dunklen, feuchten Winkeln der Anlage. Nur wer hier sein Auto parke, dürfe überhaupt rein, erklärt der Mann. „Wenn ich welche erwische, sagen die immer: Wir reden nur – Aber dann seh ich, wie sie sich den Gürtel zumachen.“ Manchmal schaut das Ordnungsamt vorbei. „Wenn die hier gucken, kommen auch weniger von den illegalen Prostituierten“, sagt er.

Die Arbeit von Roman Sylejmani, Nico Hensgens und ihren Kollegen ist mehr als das: Sie bieten medizinische Beratung, besorgen Essen, Kleidung, stellen Sanitäranlagen zur Verfügung und einen warmen Ort, um unterzukommen. Und vor allem hören sie zu – sowohl den Strichern als auch den Freiern. Dass sie die Prostitution nicht verhindern können, wissen sie. Auch dass sie die Stricher wohl kaum dazu bringen können, sich zu registrieren, sei ihnen bewusst. Was ihre Arbeit am Ende der Nacht bringt? Schwer zu sagen: „Wir gehen ja auch nicht mit Fragebögen zum Streetworking“, sagt Sylejmani.

Vor der Kneipentür treffen sie einen Freier, Heiner. So soll der Mann mit dem festen Händedruck hier heißen. Ein junger Mann huscht vorbei und verschwindet in der Kneipe. „Der ist das beste Pferd im Stall”, sagt Heiner, während er mit lustvollem Grinsen die Schritte des Mannes verfolgt. „Wir hatten mal was.“ Er wendet seinen Blick der Straßenkreuzung zu und nickt, als wolle er mit seinem Kinn die Richtung der Kneipe weisen, in der es passiert ist. Inzwischen gebe es den Laden aber nicht mehr.

Heiners Stimme klingt rau und piepsig, als gebe sein kleiner, stämmiger Körper seiner Lunge nicht genug Raum. Immer wieder grüßt er Männer, die während des Gesprächs vorbeigehen. Er lacht viel und laut, dann erwähnt er fast beiläufig: „Morgen besuche ich meinen Freund. Der liegt auf dem Nordfriedhof.“ Es ist kurz still, alle in der Runde schauen zu Boden. „Vor neun Jahren ist er gestorben. Viel zu jung.“ Heiners Freund war 23 Jahre alt, als er – „angeblich beim Rauchen“ – aus dem Fenster fiel. Mehr sagt der Mann dazu nicht.

Es sind Sorgen, Ängste und Nöte einer Welt, für die sonst niemand da ist. Gegen 23 Uhr machen Roman Sylejmani und Nico Hensgens Feierabend. Kondome sind sie an diesem Abend einige losgeworden. Sie bringen die Kondom-Bonbon-Tasche ins Büro, dann fahren beide nach Hause.