Stadt-Teilchen Wenn der Geist von Jackson Pollock durch die Kapuzinergasse weht

Düsseldorf · Unser Autor entdeckt eine Art Kunstwerk und gerät ins Schwärmen.

Ist das Kunst oder Zufall?

Foto: Hans Hoff

Kürzlich sah ich ein ergreifendes Bild von Jackson Pollock. Zumindest dachte ich, ich sähe ein ergreifendes Bild des amerikanischen Malers. Ich mag Jackson Pollock sehr und habe in Venedig mal eine geschlagene Stunde vor einem seiner Werke verbracht. Ich liebe dieses Wilde in seinen Bildern, das manche als Kritzelei abtun, das mich aber immer wieder hineinzieht in eine Welt, die nur auf den ersten Blick komplett ungeordnet wirkt, die aber beim näheren Befassen sehr klare Strukturen aufweist.

Pollock hat mich gelehrt, die Ordnung im Ungeordneten zu entdecken, weshalb ich mich erst einmal kaum wunderte, als ich im wohlgeordneten Düsseldorf ein rechteckiges, klar umrissenes Stück Pollock-Chaos entdeckte. Ich stand davor und bewunderte die Linienführung, die sich überlagernden Schichten. Hier fette schwarze Streifen, dort beinahe schon filigranes Orange. Ohne klare innere Kontur, dafür zusätzlich aufgelockert und in die Dreidimensionalität überführt durch allerlei Zettelchen, die vom Drang beseelt schienen, sich zu lösen vom Untergrund, entschlossen, die vorgegebene Konvention zu verlassen.

Ich sah Rundes, und ich sah Eckiges, Lesbares und nicht zu Entzifferndes. Auf einem Zettel entdeckte ich eine Schrift, die ich dechiffrieren konnte und die mir symptomatisch fürs Gesamtwerk dünkte. „Was heute fern liegt / kann morgen nahe liegen / es kommt nur darauf an / dass man im stande ist / sich zu nähern“, stand da. Unterschrieben von „goldjunge“. Natürlich war mir rasch klar, dass das nicht von Jackson Pollock stammen konnte. Aber einen Adepten, der in seinem Geist wirkt, vermutete ich schon.

Je länger ich vor dem Bild stand, desto faszinierter war ich. Ich machte mir Gedanken über die Entstehung. Ich stellte mir vor, wie der Künstler einst davor stand, wie er Schicht um Schicht auftrug, um dann so manche Schicht wieder abzutragen, um andere Schichten zu übermalen, um den Fluss des einen durch die Einbringung des Anderen zu stoppen.

Meine Phantasie fuhr eine Weile Achterbahn, und ich hatte meinen Spaß dabei. Natürlich hatte ich nur für den Bruchteil einer Sekunde diese Jackson-Pollock-Assoziation gehabt. Aber mir gefiel halt sehr der Gedanke, dass sich jemand in seinem Sinne in die Stadt schleicht und dann auf einer Fläche mittendrin ein Werk hinterlässt, das aufmerksame Passanten nachhaltig zu irritieren weiß. Was Harald Naegeli und Banksy können, können andere möglicherweise auch.

Rasch verwarf ich allerdings die Theorie vom Einzeltäter. In Wahrheit handelt es sich auch gar nicht um ein einzelnes Bild, vielmehr um eine Collage, die von vielen gefertigt wurde, die alle dazu beigetragen haben, dass der große Geist von Pollock mal kurz durch eine Düsseldorfer Gasse weht. Das Faszinierende an diesem Werk ist der Gedanke, dass es als eine Art Gemeinwesen zu verstehen ist, als etwas, das entsteht, wenn Menschen zusammen wirken, ohne ausdrücklich zusammen wirken zu wollen.

Dabei müssen die Schöpfer einander nicht einmal zugeneigt sein. Im Gegenteil. Dieses Werk ist auch ein Dokument der gegenseitigen Verdrängung. Ohne Rücksicht auf den einen malt, kritzelt oder klebt der andere, und wieder andere verwirklichen sich auf dem so entstandenen Untergrund, ohne sich einen Dreck zu scheren um die Intention ihrer Vorgänger. Im Prinzip darf das durchaus als Allegorie auf die wirtschaftlichen Gesetze des Urbanen verstanden werden, auf den täglichen Konkurrenzkampf, auf den üblichen Verdrängungswettbewerb. Nur dort, wo Altes vergeht, kann Neues entstehen. Man kann das immer wieder neu bestaunen, wenn man mal ein paar Wochen nicht in der Stadt war. Dort, wo gestern noch dieser eine Laden war, ist längst ein anderer, und wenn man ein paar Wochen später wiederkehrt, ist möglicherweise auch der andere schon Geschichte.

Ich habe eine gute halbe Stunde vor „meinem“ Pollock verbracht, der ja nicht meiner ist, weil er, so wie er ist, allen gehört. Wie lange das der Fall sein wird, ist offen. Vergänglichkeit ist auch ein Teil dieser Kunst. Siehe Christo. Die Weigerung, etwas dauerhaft greifbar zu machen, gehört zum Wesen.

Am Schluss meiner Begegnung mit dem Bild stand schließlich die Verwunderung darüber, wie so etwas überhaupt existieren kann. Man muss dazu die Lage betrachten. Zu finden ist das Werk nämlich in der Kapuzinergasse, und der Untergrund ist unschwer als eine Notausgangstür zu erkennen. Die führt aus einem Modegeschäft heraus, früher markierte sie wohl mal die Exit-Strategie bei Woolworth. Heute ist sie ein buntes Bild.

Das fällt umso mehr auf, als rundherum alles wie geschniegelt und gebügelt wirkt. Ganz offensichtlich kümmern sich da Menschen um ein ansehnliches Äußeres der Gebäude. Nur an dieser Notausgangstür macht der Ordnungswille offenbar Halt, so als habe man durchaus erkannt, welches künstlerische Kleinod dort an der Fassade prangt.

Das ist das Schöne am Leben in der Stadt, dass es in ihr immer noch Orte der Überraschung gibt, dass die Konfektionierung des Wirtschaftslebens immer noch Lücken lässt für Kreativität. Auch wenn die Intention vieler Beschmierer dieser Tür sicherlich keine konstruktive war und mancher Edding-Strich sicherlich auch pubertären Omnipotenzphantasien entsprang, so ist doch das Gesamtergebnis ein ganz wunderbares.

Große Kunst in kleiner Gasse. Geschaffen von vielen für viele, das beste Beispiel dafür, dass das Ganze mehr sein kann als die Summe seiner Teile. Ein Beispiel aber auch dafür, dass Vergänglichkeit zum Leben gehört. Nicht dass noch irgendwer auf die Idee kommt, diese Zeilen als Anlass zu nehmen, einmal mit dem Kärcher anzurücken und alles schön glatt zu polieren. Das sollte nicht geschehen. Stattdessen darf sich das Bild gerne weiter verwandeln, darf bunter oder monochromer werden.

Wenn man das einmal verinnerlicht hat, wird man künftig mit Spannung in die Kapuzinergasse einbiegen. Mal schauen, was diesmal wieder neu ist, was noch da ist, was sich verändert hat. Und wenn sich was verändert hat, dann wird das Bild, das man beim ersten Sehen gespeichert hat, ein exklusives. Für immer eingebrannt im Herzen, gemeinsam mit der Freude an dem, was noch kommt. Ich glaube, Jackson Pollock hätte das gefallen.