Herr Prof. Bender, die Erstklässler beginnen in der nächsten Woche ihre Schullaufbahn. Was wäre der beste Start für sie?
Interview vor dem Schulstart „Der erste Schultag ist und bleibt ein Tag für das Kind“
Düsseldorf · Der Kinder- und Jugendpsychiater Stephan Bender über Herausforderungen für Schüler und Eltern, Burn-out bei Jugendlichen und die Rückkehr zu G9.
158 400 Erstklässler werden nächste Woche Mittwoch und Donnerstag in NRW eingeschult. Insgesamt besuchen dann knapp 2,5 Millionen Schülerinnen und Schulen die gut 5500 Schulen im Land. Professor Stephan Bender leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie der Uniklinik Köln. Dort werden jährlich mehr als tausend Patienten ambulant und gut 360 stationär behandelt.
Stephan Bender: Ein Abholen der Kinder dort, wo sie im Kindergarten aufgehört haben. Die Erstklässler stehen ja vor zwei Herausforderungen. Das eine sind die Leistungsanforderungen. Schule ist nicht mehr freies Spiel, sondern es geht darum, Aufgaben zu erledigen und Dinge zu lernen. Das andere ist die soziale Herausforderung. Die Kinder müssen es schaffen, sich zu steuern, ruhig zu sitzen und zuzuhören. Das erfordert mehr Selbstdisziplin als in der Kita. Da ist ein Austausch zwischen Schule und Kita sinnvoll, um zu wissen, wo die Kinder stehen.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Eltern?
Bender: Je besser sie zu Hause schon geübt haben, dass es auch dort bestimmte Anforderungen gibt und Kinder manchmal Dinge tun müssen, die sie nicht unbedingt sofort wollen, desto besser bekommen die Kinder das auch in der Schule hin. Man muss ihnen auch die Ängste vor dem Unbekannten nehmen. Wenn die Kinder begleitet werden und die Eltern ein gutes Gefühl aus der eigenen Schulzeit vermitteln, hilft das, sich auf das Neue einzustimmen und sich darauf zu freuen.
Aber kann es nicht mitunter auch eine Überhöhung besonderer Tage wie der Einschulung geben?
Bender: Das steht und fällt mit der guten Wahrnehmung der Kinder durch ihre Eltern. Der Grat ist schmal: Ist es eine besondere Wertschätzung des Kindes oder ein großer Hype, der eher Druck macht? Wenn Eltern ein gutes Gespür für ihre Kinder haben, werden sie den Aufwand auch bei der Einschulung so dosieren, dass er wirklich Ausdruck einer Wertschätzung und guten Begleitung ist. Der erste Schultag ist und bleibt ein Tag für das Kind.
Kann eine solche Überhöhung auch Ausdruck eines schlechten Gewissens der Eltern sein, die sonst im Berufsalltag oft nicht mehr die Zeit haben, sich so um ihre Kinder zu kümmern?
Bender: Die Belastung der Eltern durch den Beruf nimmt tendenziell eher zu und damit auch die Gefahr, dass genau dieser Mechanismus einsetzt. Eine besondere Aufmerksamkeit für die Einschulung ist gut, ersetzt aber mitnichten, was vorher und hinterher passiert oder eben auch nicht. Wenn der Kontrast zum Alltagsumgang zwischen Eltern und Kindern zu drastisch ausfällt, kann das Druck eher befördern.
Haben es Schüler heute leichter oder schwerer als früher?
Bender: Vieles ist deutlich besser geworden: die Unterrichtsmethoden, die technischen Hilfsmittel – die Schulen machen da tolle Angebote. Durch diese Zunahme der Angebote wird der Schulalltag für die Kinder aber auch komplexer, weil sie aus dieser Vielzahl schon in der Grundschule auswählen müssen. Schulabhängig kommt noch die Herausforderung der Inklusion dazu. Diese Komplexität macht es den Schülern auch nicht immer einfach.
Die Weltgesundheitsorganisation spricht davon, dass 20 bis 30 Prozent der deutschen Kinder zwischen elf und 17 Jahren tiefe Erschöpfungszustände kennen. Laut DAK leiden 43 Prozent der Schüler unter Stress. Ist das eine Zeitgeistdiskussion oder eine gefährliche Entwicklung?
Bender: Der Stress nimmt zu, weil die Anforderungen an Schüler steigen und gleichzeitig der soziale Rückhalt, die Stabilität des Familiengefüges und unverplante Freiräume eher abnehmen. Diese auseinanderklaffende Schere hat ihre Ursachen natürlich nicht primär in der Schule, sondern in der Gesellschaft insgesamt: weil unbedingt das Abitur erwartet wird, am besten noch mit einer besonderen Note, oder ein ganz bestimmter Studienplatz an einem bestimmten Ort.
Wie stehen Sie zum in der Fachwelt mitunter umstrittenen Begriff des Burn-outs bei Kindern?
Bender: Das Phänomen gibt es auf jeden Fall, vor allem im Jugendbereich. In der Fachwelt spricht man von unterschiedlichen Formen der Depression, die durch chronischen Stress hervorgerufen werden, wenn die Ressourcen erschöpft sind. Den Begriff Burn-out kennen Ärzte und Psychologen so nicht. Er ist kritisiert worden, weil er etwas schwammig und nicht genau definiert, sondern eher ein Schlagwort ist.
Was sind kritische Symptome für eine solche Depression?
Bender: Wenn die Stimmung über einen längeren Zeitraum niedergeschlagen ist. Natürlich auch, wenn Suizidgedanken auftreten. Oder wenn jemand völlig antriebslos ist, morgens überhaupt nicht mehr aus dem Bett kommt und deswegen die Schule verpasst wird, die Leistungen deutlich abfallen und die Konflikte mit Lehrern zunehmen. Das führt oft zu einer Abwärtsspirale, bei der der Stress immer weiter anwächst. Eltern sollten wahrnehmen, dass sich bei ihrem Kind etwas verändert hat, die Fähigkeit, sich zu freuen, nicht mehr da ist, stattdessen ein Rückzug erfolgt und eine Einengung auf das Lernen und das Durchhalten.
Welche Ursachen kommen infrage?
Bender: Wichtig ist sicher, eine Balance zu finden zwischen dem Lernen und dem notwendigen Ausgleich, den Hobbys oder den Unternehmungen mit Freunden und Familie. Es gibt einen kleineren biologischen Risikofaktor, aber er spielt eine nicht so große Rolle wie der eigene Umgang mit Stress und die Frage, was man sich zumutet.
Begrüßen Sie die Rückkehr in NRW zum Abitur nach neun Jahren mit dem kommenden Schuljahr?
Bender: In puncto Stress entschleunigt G9 die ganze Sache auf jeden Fall. Und Nachmittagsunterricht entfällt zugunsten anderer Aktivitäten, die dann wieder möglich werden. Insofern bleibt zu hoffen, dass die Rückkehr zu G9 einen positiven Beitrag liefern kann.
Was wünschen Sie sich von den Eltern der Schüler, die ins neue Schuljahr starten?
Bender: Dass sie sich auf der einen Seite nicht scheuen, durchaus gesunde Erwartungen an die lieben Kleinen zu formulieren, auf der anderen Seite aber auch gut darauf achten, dass es in der Familie und bei den Hobbys nicht nur um Schule, Handy und Computer geht, sondern auch um direkte Kontakte, Sport und kreative Freizeitgestaltung.
Und an welcher Stelle kommen Kinder- und Jugendpsychiater ins Spiel?
Bender: In der Grundschule geht es oft um Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS. Mit Schuleintritt fällt das mehr auf, wenn die Kinder still sitzen und sich konzentrieren sollen. Dann sind eine Anleitung der Lehrer und ein Elterntraining notwendig, aber auch Therapien bis hin zu Medikamenten. Bei den Jugendlichen sind es eher Probleme wie die angesprochenen Depressionen, Essstörungen oder Ängste davor, von anderen Jugendlichen bewertet zu werden. Die Zahl der Jugendlichen, die vor der Klasse kein Referat mehr halten wollen, weil sie befürchten, ausgelacht zu werden, und am Ende vielleicht gar nicht mehr zur Schule gehen, nimmt deutlich zu.
Auch wegen der Prangermöglichkeiten in den digitalen Netzwerken?
Bender: Das kann eine Rolle spielen, wie überhaupt die gesamte Mobbing-Problematik.
Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf, um ein gelingendes Schulleben ermöglichen zu können?
Bender: Es ist ganz wichtig, weiter an der personellen Ausstattung der Schulen zu arbeiten. Wenn genügend pädagogische Fachkräfte im Einsatz sind, kann ganz viel aufgefangen werden. Dann ist auch ein Unterricht ohne viel Druck möglich. Schwierig wird es, wenn diese Ressourcen fehlen.