Computer wird zum Gefährten in einer feindlichen Welt
Die Zahl junger Leute wächst, die abhängig sind vom Internet und immer mehr abrutschen.
Krefeld. Marcel M. (Name geändert) ist ein Überflieger. Ihm gelingt fast alles, wer sich ihm in den Weg stellt, wird weggefegt, er hat die ganze Welt im Griff - zumindest im Internet. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Zahl der - vor allem jungen - Menschen nimmt zu, die täglich zehn bis 15 Stunden im Netz hängen und sich immer weiter aus dem realen Leben verabschieden.
"Der Computer übernimmt die Gefährtenfunktion, wird immer mehr zum Raum für Wünsche, Hoffnungen und Erfolgserlebnisse", berichtet Suchttherapeut Frank Eggebrecht vom Alexianer "Bürgerhaus Hütte" in Rheinhausen.
Das ambulante Zentrum arbeitet eng mit der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen des Alexianer-Krankenhauses Krefeld zusammen. Zwölf Rehabilitationsplätze hält die Bürgerhütte für zuvor stationär behandelte spielsüchtige Patienten vor. Internetsucht hingegen ist als psychiatrische Diagnose in Deutschland nicht anerkannt. "Obwohl wir im Rahmen der Suchtverlagerung sehr wohl Parallelen zu anderen stoffgebundenen Substanzen wie Alkohol beispielsweise sehen", sagt Dr. Helmut Eich, Chefarzt der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen am Alexianer-Krankenhaus Krefeld.
Hinzu kämen suchttypische Abwehrmechanismen. Die reichen von der Verleugnung der Abhängigkeit bis hin zur Rechtfertigung. Eich und sein Team haben inzwischen die Konsequenz daraus gezogen, alkohol-, drogen- oder spielsüchtigen Patienten während der stationären Behandlung im Alexianer nicht mehr uneingeschränkt Zugang zum Internet zu ermöglichen.
Besondere Sorge bereitet Eich und Eggebrecht eine ganz spezielle Gruppe: Die der Jugendlichen, die nach dem Schulabschluss ohne Ausbildung den ganzen Tag nur noch vor dem Computer abhängen und sich abends mit ihrer Clique treffen, um sich Wasserpfeifen oder Joints reinzuziehen. "Die kommen aus diesem Kreislauf nicht mehr heraus", erklären die Fachleute unisono. Zunehmend würden Eltern sich hilfesuchend an die Fachleute wenden.
Bei diesen Jugendlichen sind massive Entwicklungskrisen vorprogrammiert. "Sie glauben, in der virtuellen Welt könne ihnen nichts passieren, denn wahre Gefühle wie Stress, Leere oder Traurigkeit können sie nicht aushalten", sagt Suchttherapeut Eggebrecht. Dafür chatten sie, spielen tagelang Counterstrike oder World of Warcraft mit scheinbaren Freunden oder erfinden sich einfach neu in virtuellen Parallelwelten wie Second Life.
Ob das Bürgerhaus Hütte oder die Fachambulanz für Spielsüchtige in Neuss: Hilfsangebote für Internetsüchtige gibt es inzwischen in ausreichender Form. "Das Problem ist nur: Sie werden nicht genutzt", erklärt Eggelbrecht. Viele hätten Phobien entwickelt und würden aus Angst vor der realen Welt nicht mehr ihre vier Wände verlassen. Auch seien sie bei Verabredungen äußert unzuverlässig.
Nach einem ersten Kontakt über E-Mail dauere es in der Regel allein zehn bis zwölf Wochen, bis der Therapeut das erste Mal ein längeres Telefonat und damit auch einen Dialog mit dem Hilfesuchenden führen könne. "Wir wollen die Menschen davon überzeugen, dass die spannendste Welt die reale Welt ist, doch dafür müssen wir unsere Klienten zum Leben verführen." So wie Marcel.