Love-Parade Jahrestag Notfallseelsorger: „Mancher wird die Bilder nie mehr los“
Marc Kubella ist Priester. Am Abend des 24. Juli 2010 erreichte ihn ein Anruf — er sollte nach Duisburg kommen.
Krefeld. Der 24. Juli 2010. Ein herrlicher Sommer-Samstag. Auch über dem Ruhrgebiet scheint die Sonne, es ist 25 Gad warm. Perfekt für hunderttausende junger Menschen, um auf dem Gelände des alten Duisburger Güterbahnhofs das größte Tanzfest der Welt zu feiern - die „Love Parade“. Es wird zum Desaster.
Fehlgeleitete Besucherströme und Planungsfehler, so heißt es, verursachen rund um einen Fußgängertunnel am Geländerand eine Panik. Ein Gedränge, in dem 21 Menschen sterben, über 500 verletzt werden. Mit dieser Tragödie vor fünf Jahren endete die Geschichte der „Love Parade“, die 1989 in Berlin entstand, später an wechselnden Orten veranstaltet wurde.
Wer dort war, vergisst den Tag nie mehr. Wie Marc Kubella (39), katholischer Geistlicher und Notfall-Seelsorger aus dem nahen Krefeld. Er erinnert sich. „An diesem Samstag hatte ich um 17.15 Uhr eine Messe gelesen, fuhr danach zu einer privaten Feier. Da klingelte mein Handy.“ Am anderen Ende: der Chef vom Malteser-Hilfsdienst Duisburg. Die beiden kennen sich schon lange.
Denn Kaplan Kubella ist seit der Jugend ein Malteser, durchlief bei der katholischen Hilfsorganisation alle Stationen - Sanitäter, Rettungssanitäter, Rettungsassistent. Im Rahmen des Theologie-Studiums machte er eine Ausbildung zum Seelsorger. Und während der Priester-Ausbildung arbeitete er ein Jahr im Hamburger Hafen-Krankenhaus - auf einer Station für Obdachlose, Drogenkranke, Stricher.
„Dort wurden Menschen durch Zuwendung und Gespräche aufgefangen“, erklärt Kubella. „Da habe ich sehr viel gelernt.“ Bis heute besucht er regelmäßig Weiterbildungen, zu denen das Bistum die hauptamtlichen Seelsorger einlädt. Außerdem nimmt er an Übungen der Krefelder Feuerwehr teil, um die Abläufe und die Männer kennenzulernen: „Damit wir im Notfall harmonisch zusammenarbeiten.“
Der Anrufer an jenem Samstag schildert ihm, was sich für ein Unglück gerade ereignet. Er bittet Marc Kubella, nach Duisburg zu kommen und sich um das junge Malteser-Personal zu kümmern. „Die Jugendlichen, viele kaum 20 Jahre alt, waren mit dem Albtraum um sie herum völlig überfordert“, sagt Kubella. „Die 35 Jungs und Mädchen wurden in die Sammelstelle zurückgerufen, durch älteres, erfahrenes Personal ersetzt.“
Dorthin fährt der Priester nun. Vorbei an überfüllten Autobahn-Rastplätzen, auf denen dutzende Notarztwagen aus ganz NRW auf ihren Einsatzruf warten. Über ihm immer wieder Rettungs-Hubschrauber, die Richtung Duisburg fliegen. Im Autoradio hört er die Reporter mit immer neuen Schreckens-Nachrichten.
Kaplan Kubella: „Um halb acht kam ich auf dem Hof der Malteser an. Dort saßen die jungen Sanitäter, wirkten total abgekämpft. Ihnen war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Viele starrten ins Leere, hatten verweinte Augen“. Kubella zieht sich seine Malteser-Jacke über, die signalisiert: „Ich bin einer von euch!“
Er bringt kalte Getränke, beginnt erste Gespräche. Mal unter vier Augen, mal in einer Gruppe. Die jungen Malteser reden sich die Last von der Seele. Einige stammeln nur, schütteln den Kopf, können nicht begreifen. Aus anderen sprudelt es wie ein Wasserfall. Atemlos berichten sie. Dass da überall Verletzte gelegen hätten, blutend, mit Knochenbrüchen, vor Schmerz schreiend.
Dass es zugegangen sei wie auf einem hoffnungslos überfüllten Rummelplatz. Dass verzweifelte Angehörige versucht hätten, die abgedeckten Toten zu reanimieren. Dass man sie kaum habe zurückhalten können. Dass sie um sich geschlagen und Polizisten, Ärzte, Sanitäter beschimpft hätten: „Warum wart ihr nicht früher da? Warum habt ihr nicht geholfen?“
„Als Helfer Zielscheibe der Wut zu werden, ist sicher nicht schön“, sagt Marc Kubella. „Aber die Reaktion der Angehörigen, die sich in einem Ausnahmezustand befinden, ist in solchen Momenten ja menschlich.“ Von den Jung-Sanitätern hört er auch, dass sie nahe des Todes-Tunnels mit ihrem Mannschaftswagen von einer panischen Menschenmasse eingeschlossen worden seien. Die Menge hätte gegen die Scheiben geschlagen, hätte geschrien und gedroht.
Kubella: „Solche Szenen der Bedrohung brennen sich ins Gedächtnis ein. Manch einer wird diese furchtbaren Bilder nie mehr los.“ Nur mit großer Mühe kamen die Jung-Sanis zur Sammelstelle zurück. Wie kann ein Notfall-Seelsorger solchen Menschen helfen? „In dem er geduldig zuhört, sie weinen und reden lässt. Die Emotionen müssen raus, das befreit. Ich halte Blickkontakt mit diesen Menschen, nehme sie in den Arm, spende tröstende Worte. In die kann ich Gott einbeziehen, muss es aber nicht. Ich merke ja, wie derjenige darauf reagiert. Wichtig ist nur, dass diese traumatisierten Menschen spüren, dass sie in ihrer Not nicht allein sind, dass man ihnen ein Gefühl der Geborgenheit gibt.“
Der Einsatz in Duisburg endet für Kaplan Kubella nachts um 1. Übermüdet, aber aufgewühlt kommt er heim, sitzt noch lange schaudernd vor dem Fernseher, in dem es nur ein Thema gibt. Er sieht die Bilder wie von einem Schlachtfeld. Das ganze Chaos. Er hört die Bilanz: 541 teils schwer Verletzte, 21 Tote. 13 Frauen, acht Männer. Alle durch „massive Brustquetschungen“ zu Tode gekommen, wie man bei den Obduktionen feststellen wird. Inzwischen gibt es 27 Tote zu beklagen. Denn wie der „Selbsthilfeverein LoPa 2010“ im vergangenen Jahr mitteilte, hätten sechs Überlebende Suizid begangen. Sie hatten die enormen seelischen Belastungen nicht mehr ertragen.
Am Tag danach, dem Sonntag, stand Marc Kubella nach ruheloser Nacht um 10 Uhr auf der Kanzel. „Ich habe der Gemeinde, die natürlich durch Fernsehen und Radio informiert und fassungslos war, von meinen Eindrücken aus Duisburg erzählt. Wir haben alle Opfer, deren Angehörige und die vielen Helfer in unsere Gebete eingeschlossen.“
Nun naht der fünfte Jahrestag der Katastrophe. Ein Freitag. Kaplan Kubella wird am 24. Juli in seinem Abend-Gottesdienst an die unfassbare Tragödie erinnern. „Mit einer Gänsehaut“, sagt er. „Das weiß ich jetzt schon.“