Inforeihe Psyche Spielsucht: "Am Anfang war es wie ein Kick"
Unbesiegbar — so hat sich einst Carsten Kramer gefühlt. Nichts konnte ihn in seiner Glücksspielsucht stoppen. Bis der emotionale Druck eines Tages zu viel für ihn wurde.
Krefeld. Das Blinken der Automaten, es ist das Erste, woran Carsten Kramer (Name von der Redaktion geändert) sich erinnert, wenn er ans Spielen denkt. Es war diese Fähr-Fahrt nach Schweden, 1990. Urlaub mit den Eltern, Carsten Kramer ist zehn, vielleicht elf Jahre alt.
Er treibt sich auf dem Schiff herum. Alles ist neu, aufregend, und dann sind da die Spielautomaten, die den Jungen magnetisch anziehen. „Die haben alle geblinkt, das hat eine richtige Faszination auf mich gehabt“, erzählt der 37-Jährige. Er wirft eine Münze hinein. Noch eine. Und noch eine. „Ich habe mein ganzes Urlaubsgeld schon auf der Hinfahrt darin versenkt . . .“ Vielleicht war das der Anfang.
Carsten Kramer ist glücksspielssüchtig. Und er leidet an einer bipolaren Störung, ist manisch-depressiv. Heute sagt er: „Am Anfang war es der Kick, das Gefühl, ein Erfolgserlebnis zu haben, später habe ich mich ins Casino geschleppt. Ich wusste, dass ich verliere, aber ich musste trotzdem hin. Ich war wie ferngesteuert.“ Auch wenn er heute nicht spielt, clean ist, weiß der 37-Jährige, „morgen kann das anders sein. Ich hatte Rückfälle.“ Den letzten im März 2015.
In der Schule fängt Carsten Kramer mit Fußballwetten an. Ist doch nichts dabei, denkt er damals, seine Freunde machen das auch. Er ist noch nicht 18, da fährt er zur Krefelder Pferderennbahn und beginnt zu Wetten. „Das war eine schöne Atmosphäre.“ Carsten Kramer wird mutig, statt auf den Favoriten, setzt er auf den Sieg des Außenseiters. Der höchste Gewinn, ein vierstelliger Betrag.
Was machen da die Niederlagen? „Beim ersten Mal habe ich zehn Euro verspielt, später das Geld für einen ganzen Monat“, erinnert sich Kramer und spricht von Kontrollverlust. Aus Krefeld fährt er mit seiner Clique nach Dortmund, ins Casino Hohensyburg. Wenn er mal wieder verliert, holt sich Carsten Kramer neues Geld vom Automaten. Heimlich. „Ich war blöd, auch meine Eltern habe ich immer öfter angelogen.“
Mit 25 zieht Kramer von zuhause aus und mit seiner heutigen Ehefrau in eine gemeinsame Wohnung. Dass er vom Langschläfer zum Frühaufsteher wird, schiebt der junge Mann auf den neuen Lebensabschnitt. „Ich bin nachts aufgestanden und habe die Wohnung aufgeräumt. Morgens war ich oft schon um fünf im Büro und habe bis abends um zehn gearbeitet. Ich war voller Tatendrang“, erinnert er sich. „Ich habe viel angefangen, aber nichts zu Ende gebracht.“ Kramer schläft kaum, trinkt viel Kaffee, raucht. Seine Frau habe ihn damals als gereizt empfunden. Und er selbst? „Ich habe mich selbstbewusst, total fit, unbesiegbar gefühlt.“ Heute weiß Carsten Kramer: „In der Manie glaubt man, man kann die Weltherrschaft übernehmen.“
Doch darauf folgt immer die Depression. „Dann war ich ständig müde, antriebslos, unfähig Entscheidungen zu treffen. In der Depression steht man zwei Stunden vor dem Schrank und weiß nicht, welches T-Shirt man anziehen soll.“ Carsten Kramer leidet unter Wahnvorstellungen, sieht seine Frau, wie sie im Auto vor der Haustür von einem Lkw erfasst wird. Seine Freunde sagen: „Lass’ doch mal dein Blut untersuchen.“
In den manischen Phasen steigt Kramers Spielkonsum. Er ist 29, seine Frau mit dem ersten Kind hochschwanger, als er sie eines nachts in Panik aus dem Casino anruft und gesteht: „Ich habe Scheiße gebaut.“ Er habe Roulette gespielt, alles verzockt, dabei auch 900 Euro von seiner Firma unterschlagen. Kramer kann das Geld unbemerkt zurückzahlen, „dann war fast drei Jahre Ruhe mit dem Spielen“, sagt er.
Als Außendienstmitarbeiter in der Gastronomie ist Kramer ständig unterwegs, auch in Kneipen. Da sind sie wieder, die blinkenden Sportwettenautomaten, die ihn schon als Kind magisch angezogen haben, die Kunden laden zu Pokerspiel am Kneipentisch. Kramer kann nicht widerstehen — und gewinnt für 80 Euro Einsatz 2500 Euro. „Am nächsten Tag habe ich im Gewinnrausch 3500 Euro verspielt.“ Für eine Dienstreise nach Las Vegas beantragt er eine Kreditkarte. „Über die habe ich dann monatlich mehrere Tausend Euro verspielt, den Dispo einfach immer wieder erhöht.“ Die Schulden deckt er mit dem Bausparvertrag, mit Geld aus der Firma. „Irgendwann habe ich rund um die Uhr gespielt. Am Pokertisch, im Casino, am Handy im Internet.“
2013 wird seine Frau wieder schwanger, „ich habe sie die ganze Schwangerschaft alleine gelassen“, sagt Carsten Kramer. Den 37-Jährigen quälen Schuldvorwürfe: „Für die Scheißzockerei habe ich meine Prinzipien über Bord geworfen. Ich habe meine Frau, meine Eltern belogen, sogar Geld aus dem Sparschwein meines kleinen Sohns geklaut und mir dabei immer vorgemacht, dass ich es ja am nächsten Tag zurückzahlen kann.“ Im Auftrag der Firma verschickt Carsten Kramer Mahnungen, weil das Geld der Kunden, das er am Pokertisch verspielt, fehlt.
Er erfindet Geschichten, „da entwickelt man ein Talent, das ist grauenhaft“. Als das Konto 35 000 Euro im Minus ist, hält er den emotionalen Druck schließlich nicht mehr aus. „Ich wusste, wenn das in der Firma rauskommt, bist du den Job los. Aber es musste knallen.“ Seine Tochter ist gerade auf der Welt, da gesteht Carsten Kramer seinem Chef, dass er Firmengeld unterschlagen hat. Der verzichtet auf eine Anzeige, weil der 37-Jährige eine Schuldanerkenntnis unterschreibt und seine Schulden monatlich begleicht.
Heute hat Kramer einen 450-Euro-Job. Er besucht eine Selbsthilfegruppe für Spieler und Therapiegespräche, spielt Fußball, macht viel Sport. „Dabei werden ja auch Glückshormone ausgeschüttet, das tut mir gut. Ans Spielen denke ich heute meistens mit Ekel“, sagt er. „Zum Glück.“