Glockenspiel im hohen Turm
Die früher weit verbreitete Tradition des Beierns wird in Gruiten noch gepflegt.
Gruiten. Manche Tradition lässt sich ganz einfach definieren: „Beiern ist das rhythmische Anschlagen der Glocken nach überlieferten Melodien“, sagt Josef Ahrweiler. Der Gruitener muss es wissen, war es doch sein Vater Heinrich, der diese Tradition 1979 zum 100. Kirchweihfest an St. Nikolaus wieder einführte. „Mein Vater kannte das Beiern aus der Vorkriegszeit, als er noch ein Kind war“, sagt Ahrweiler. Damals waren es Jugendliche mit einem besonderen Status, zum Beispiel Obermessdiener, die einmal im Jahr in den Glockenturm der katholischen Kirche im Dorf kletterten und die Glocken spielten. Heute sind es Josef Ahrweiler, Hans Fett und Ralf Guski — die sogenannten Beiermänner.
„Das Beiern ist kein Glockenläuten, sondern funktioniert genau umgekehrt“, sagt Ahrweiler. Der Glockenmantel hängt ruhig, der Klöppel wird mit einem Kälberstrick aus Hanf so angebunden, dass er ganz nah am Glockenmantel hängt. „Durch einen kurzen Zug am Strick können wir die Glocke dann manuell anschlagen“, sagt Ahrweiler.
Zwei überlieferte Melodien spielen die Beiermänner auf zwei der vier Glocken im Turm von St. Nikolaus — der Concordiaglocke, die auf Ton „e“, und der Friedensglocke, die auf Ton „a“ gestimmt ist. „Es sind schnelle, fröhliche und beschwingte Melodien“, sagt Ahrweiler. Schließlich wurde früher zur Kirmes gebeiert. Sie erinnern ihn an ein Rosenkranzgebet, weil die eingängigen Melodien in kurzer Folge mehrmals wiederholt werden. „So prägen sie sich dem Zuhörer gut ein“, sagt er.
Die Zuhörer erdachten sich im Laufe der Jahre dazu passende Texte, die sie gedanklich mitsprachen, wenn sie die Klänge hörten. Ein religiöser Text lautet: „Wir loben Dich, wir preisen Dich, denn groß ist Deine Herrlichkeit, auf ewig, auf ewig.“ Einen weltlichen Ursprung hat „De Kermes kütt, de Kermes kütt, de Kermes, Kernes, Kermes kütt“ (die Kirmes kommt). Oder auch: „Kartoffelsupp’, Kartoffelsupp’, immer nur Kartoffelsupp’.“ „Das war früher unter den Protestanten verbreitet, als sich diese noch nicht so gut mit den Katholiken verstanden“, sagt Ahrweiler schmunzelnd.
Für ihn ist das Beiern etwas ganz Besonderes, das in Gruiten nur einmal im Jahr stattfindet. Früher war es beim Kirchweihfest, das immer am ersten Sonntag im Juli gefeiert wurde. An diesem Tag zog auch eine Prozession durchs Dorf — und eine Kirmes sorgte für Unterhaltung. Mit der Zusammenlegung der beiden katholischen Gemeinden Haan und Gruiten wurde die Prozession auf den Fronleichnamstag verlegt und findet nun abwechselnd in Haan und Gruiten statt. Gebeiert wird allerdings nur, wenn die Prozession durchs Dorf zieht.
Dann werden auch die Schallbretter von den Öffnungen oben im Turm genommen, damit die Melodien weit zu hören sind. „Normalerweise kann man nämlich nicht hinausschauen“, sagt Ahrweiler und genießt dann den seltenen Ausblick über das Dorf. „Man steht über den Dingen“, sagt der Beiermann: „Man sieht, wer zu spät in die Kirche kommt oder zur Predigt in die Kneipe geht. Es ist ein Gefühl von Freiheit, das da oben auf dem Turm aufkommt.“