Sütterlin-Expertin: „Schrift ist ein Kulturgut“
Waltraud Lübker hat sich die Sütterlin-Schrift selbst beigebracht. Zunächst, weil sie ein Geheimnis hüten wollte.
Haan. Für Leser ist Sütterlin eine Herausforderung. In gedruckter Form sieht das X aus wie ein H, das H sieht aus wie ein X. Und wer das kleine E undeutlich schreibt, hat daraus ganz schnell ein M oder N gemacht. „Sütterlin ist eine Leidenschaft, die man pflegen muss“, sagt Waltraud Lübker.
Die 68 Jahre alte Haanerin übt sich regelmäßig in dieser Schönschrift, die ab 1915 an preußischen und von 1935 bis 1941 an allen deutschen Schulen unterrichtet wurde. „Wenn ich Postkarten bekomme, schreibe ich die in Sütterlin ab“, sagt sie. „Das ist eine gute Übung.“
Vertraut ist sie mit dieser von vom dem Grafiker Ludwig Sütterlin (1865 bis 1917)entworfenen Schrift schon seit Jahren. Die gebürtige West-Berlinern, das zu betonen ist ihr wichtig, hatte schon als junge Frau eine Leidenschaft für alte Poesiealben.
„Entlang der Straße zum alten Flughafen reihten sich früher Antiqutiätenladen und Antiquariate aneinander“, erinnert sie sich. Zehn bis 15 Stück der liebevoll beschriebene kleinen Bücher besitzt sie noch heute.
„Anfang der 1990er-Jahre habe ich ein Gedicht geschrieben, das keiner lesen sollte“, sagt Waltraud Lübker — und schrieb ihre Poesie in Sütterlin. Und dann erlitt sie vor anderthalb Jahren einen Kreuzbandriss. „Da konnte ich nicht viel machen, außer lesen“, erinnert sie sich.
Die Mutter von drei Kindern und vier Enkeln durchsuchte ihr Bücherregal, stieß auf die Poesiealben und auf in Sütterlin geschriebene Kinderbücher. Ihr größter Schatz ist ein selbst gemachtes Schulbuch aus dem Krieg. „Das hat jemand mit Tapete, Gummi und Butterbrotpapier hergestellt“, sagt sie und zeigt das liebevoll geschriebene Heft mit den durchgepausten Zeichnungen.
„Dieses und die anderen Bücher habe ich mir alle laut vorgelesen, da war ich wieder drin“, sagt sie.
Inzwischen gibt sie ihr Wissen auch in einem Kurs bei der Volkshochschule weiter. „Ich bin nicht perfekt, aber ich möchte, dass dieses Kulturgut nicht verloren geht“, sagt sie. Mit ihren Schülern — „die sind nicht so alt wie ich“ — übt sie das Schreiben wie in der Schule. „Ich mache zum Beispiel Diktate“, sagt sie. Auch ihren Enkelkindern versucht sie, diese aus der Mode gekommene Schrift, beizubringen.
„Sütterlin ist nicht einfach“, gibt sie zu. „Allein für das S gibt es drei verschiedene Schreibweisen. Am Ende eines Wortes sieht es anders aus als am Anfang.“ Waltraud Lübker macht auch Übersetzungen, beispielsweise von alten Briefen.
„Ich musste mal sechs Din A4-Seiten übersetzen, die von Hand geschrieben waren“, sagt sie. „Das war schwierig.“ Nicht immer konnte sie die Schrift entziffern, musste sich Wörter häufig über den Zusammenhang erschließen. „Da habe ich mit einer riesigen Lupe gearbeitet.“
Aber Waltraud Lübker liest nicht nur in Sütterlin geschriebene Bücher. Die lebenslustige Berlinerin ist vielseitig interessiert und talentiert. Sie schreibt Bücher und Gedichte, singt im Gospelchor „Taktvolk“, malt und häkelt. „Ich mache vieles gerne“, sagt sie. Es muss nicht perfekt sein. Dann drehe ich mich lieber um und probiere etwas Neues.“