Ratingen: Die Schrecken sind unvergessen
Zeitzeugen erinnern sich an die furchtbaren Geschehen am 9. November 1938.
Ratingen. Am Samstag jährt sich der als "Reichskristallnacht" oder "Novemberpogrom" bezeichnete Angriff auf jüdische Menschen und ihr Eigentum zum 70. Mal. Aus diesem Anlass findet um 17 Uhr in der Aula der Anne-Frank-Schule eine Gedenkveranstaltung der Stadt statt, bei der auch Zeitzeugen ihre Erlebnisse an jenem 9. November 1938 schildern.
"Ich war damals erst elf Jahre alt und habe von meiner Cousine einen Vorfall erzählt bekommen", erinnert sich Hilde Samans. So seien an diesem Abend vor 70 Jahren junge SA-Leute grölend und Hasslieder singend durch die Straßen der Innenstadt gezogen.
Ihr Ziel: Den jüdischen Friedhof an der Werdener Straße zu schänden. "Der Ortsgruppenleiter Schneider ist dann in Hemdsärmeln auf die Straße gegangen und hat den SA-Leuten zugerufen, sie sollten damit aufhören. ,So was gibt es bei uns nicht’, soll er gesagt haben. Die jungen Leute haben sich dann verzogen", so Hilde Samans.
Der jüdische Friedhof in Ratingen wurde in der Pogromnacht dennoch geschändet, ob von den erwähnten oder anderen SA-Leuten. "Es wurden Grabsteine umgeworfen und zerstört", weiß Historikerin Erika Münster.
Die Stadtarchivarin hat lange und intensiv recherchiert und auch Belege gefunden: 1945 gab es Aktenvermerke, wonach die britischen Besatzer die Stadtverwaltung aufgefordert hätten, die Schuldigen zu ermitteln. Münster: "Es war eine kleine Gruppe junge Leute, die nach der Verwüstung des Friedhofes mit einem Lastwagen nach Düsseldorf gefahren sind, um dort die Synagoge anzustecken."
Nachweislich haben Ratinger NSDAP- und SA-Angehörige an den Ausschreitungen in Düsseldorf teilgenommen. Dieses unsägliche Treiben hat Kurt Holzapfel, langjähriger Leiter der Ratinger Volkshochschule, hautnah miterlebt. Als 16-jähriger Schüler fuhr er an diesem Novembertag mit der Straßenbahn in die Innenstadt zum Hohenzollern-Gymnasium.
"Es war ein Irrsinn", erinnert er sich. "Schon auf der Benrather Straße waren viele jüdische Geschäfte demoliert, an Häusern wehten Gardinen aus den zerbrochenen Fenstern. Auf der Kö sah ich, wie sich ein paar Leute abmühten, ein Klavier aus dem Fenster zu werfen. Überall lagen Scherben und Trümmer. Leute liefen verstört herum und wir fragten uns: Was ist passiert?" Dann sah Holzapfel die brennende Synagoge an der Kasernenstraße. "Die Feuerwehr war da, löschte aber nicht. Sie spritzte nur die Gebäude daneben ab, damit die nicht Feuer fingen."
In der Schule klärte der Klassenlehrer, "der von uns sehr verehrte Peter Körbes", die Pennäler auf. Holzapfel: "Er sagte: ,Es ist etwas Fürchterliches passiert. Geht nach Hause und schämt euch für die, die das angerichtet haben.’" Zu Hause, Holzapfel wohnte damals in Rath, fand er seine Mutter weinend in der Küche: Der jüdische Hausarzt aus der Nachbarschaft war in der Nacht "zu Tode gekommen", erinnert sich der 86-Jährige noch an die Situation.
In Ratingen blieb die Synagoge von einer Verwüstung verschont: Weil das Mindestaufgebot von zehn religionsmündigen Männern für einen Gottesdienst nicht mehr erreicht wurde, blieb das Gotteshaus schon seit 1930 ungenutzt. Für 2000 Reichsmark kaufte die Stadt Ratingen 1936 die Synagoge von der Düsseldorfer Gemeinde, um sie 1940 abreißen zu lassen.