Ratingen: Immer häufiger muss das Jugendamt erziehen
Verwahrlosung, Armut, psychische Krankheiten – die pädagogische Feuerwehr des Jugendamts hat immer mehr zu tun.
Ratingen. Ein Jugendamt ist so etwas wie ein Seismograph für gesellschaftliche Erschütterungen: Ob zerfallende Familien, Arbeitslosigkeit oder Erfolgsdruck - alle Probleme, mit denen die Menschen zu kämpfen haben, betreffen ganz besonders Kinder und Jugendliche - und diese landen dann häufig auf den Schreibtischen der Ämter.
Auch das Ratinger Jugendamt hat alle Hände voll zu tun. Gerade erst hat sich Amtsleiterin Christa Seher-Schneid einen Nachschlag von 515 000 Euro vom Stadtrat genehmigen lassen. Das meiste davon fließt in die ambulante Erziehungshilfe. Deren Ausmaß hat sich nämlich binnen Jahresfrist fast verdoppelt: 2007 waren es wurden noch 185 Fälle betreut, Mitte dieses Jahres schon 300.
Natürlich gibt es dabei das soziale Elend, das aus dem Mangel an Bildung, Geld und Perspektive rührt, das bisweilen eine unheilvolle Allianz mit Sucht und Gewalt eingeht. "Manche Kinder kriegen nichts zu essen, oder gehen statt mit einem Ranzen mit der Plastiktüte zur Schule", beschreibt Seher-Schneid die Symptome. Mal wird das Jugendamt gerufen, weil ein Vater lautstark seine Tochter verprügelt, mal weigert sich ein Junge, zurück nach Hause zu gehen, so groß ist seine Angst.
In solchen Fällen können die Leute vom Amt blitzschnell und ohne Richterspruch handeln, bringen die Kinder im Heim oder bei Pflegeeltern unter, mal kurzfristig, mal über Jahre. 95 junge Ratinger sind derzeit auf diese Weise versorgt, jeder davon kostet die Stadt 40 000 bis 50 000 Euro pro Jahr, in besonders schwierigen Fällen auch weit über 100 000 Euro.
Kompliziert - und teuer - wird es, wenn handfeste, psychische Krankheitsbilder dazu kommen. Auch das erlebt Seher-Schneid immer häufiger: "Dann sitzen Kinder nur noch vor dem PC, gehen nicht mehr nach draußen. Jugendliche hören Stimmen oder versuchen sich umzubringen. Andere begeben sich wissentlich in Gefahr, fahren für Internetbekanntschaften heimlich bis nach Hamburg." Sie könnte noch unzählige Beispiele nennen, doch den einen typischen Fall, den gibt es nicht.
Vor allem sind die Probleme nicht an ein soziales Milieu gebunden, stellt die Amtsleiterin fest. Seit etwa fünf Jahren braucht verstärkt auch die wohlsituierte Bürgerschaft ihre Hilfe: "Manche Kinder werden eben schon im Kindergarten überfordert, da dürfen sie sich nicht dreckig machen und müssen immer die Besten sein. Dass die später rebellieren und durchdrehen, ist kein Wunder." Auch mit Hochbegabten hat sie es zu tun, die ihre Umwelt terrorisieren.
Dass es für die pädagogische Feuerwehr der Stadt in absehbarer Zeit weniger zu tun gibt, kann Seher-Schneid nicht in Aussicht stellen. Eher das Gegenteil. Ihre Abteilung rechnet mit weiter wachsenden Zahlen.
Das liegt nicht nur daran, dass die Probleme wachsen und die Finanzkrise weitere Risiken für die Menschen bringt. Es ist auch die gestiegene Aufmerksamkeit in der Bevölkerung. Seitdem die krassen Fälle von Kindesmisshandlung bekannt wurden, informieren die Menschen das Jugendamt schneller.
Auch die Aufstockung des Bezirksdienstes im Jugendamt (siehe Kasten) könnte noch mehr Arbeit nach sich ziehen. "Die fünf Mitarbeiter werden nicht eingestellt, um Kosten zu sparen", erklärt Seher-Schneid.
Im Idealfall stellen die Sozialarbeiter nämlich einen ersten, wertvollen Kontakt zwischen Familien und dem Jugendamt her, so dass sich diese vielleicht später leichter Hilfe suchen. Der positive Effekt ist also eher ein langfristiger.