Kempen „Stinker“ für Bauern ein Problem
Junge Eber werden von Landwirten bisher oft ohne Betäubung kastriert. Das wird sich bald ändern.
St.Hubert. Der umstrittene Handgriff dauert nur wenige Sekunden: Der Landwirt hebt das männliche Ferkel an den Hinterläufen hoch, durchschneidet mit einem Skalpell die Hoden-Haut, durchtrennt den Samenstrang und entfernt beide Hoden. Mehr als 20 Millionen junge Eber werden in Deutschland nach dieser Methode pro Jahr kastriert — meist ohne Betäubung. Damit ist bald Schluss: Ab dem 1. Januar 2019 ist die Kastration von Ferkeln laut Tierschutzgesetz nur noch unter Betäubung erlaubt. Große Ketten im Lebensmittel-Einzelhandel (LEH) gehen sogar einen Schritt weiter und haben angekündigt, ab dem 1. Januar 2017 gänzlich auf den Fleischverkauf von kastrierten Tieren zu verzichten.
Tierschützer atmen auf — viele Landwirte, die Schweine halten, sehen die Entwicklung dagegen mit großer Sorge. Einer von ihnen ist Jörg Boves aus St. Hubert. „Damit man mich nicht falsch versteht: Ich bin froh, wenn die Kastration von Ferkeln Geschichte ist“, betont er. Denn diese sei wahrlich „keine tolle Sache“. Doch er befürchtet, dass kleine, schweinehaltende Familienbetriebe wie der seine jetzt „von der Fleischindustrie, dem Lebensmittel-Einzelhandel und Zuchtunternehmen überrollt werden“. Insbesondere der Einzelhandel stelle Forderungen, ohne genau zu sagen, was er denn wolle.
Warum überhaupt kastriert wird, lässt sich ganz einfach erklären: Eberfleisch kann widerlich stinken. Sexuallockstoffe sorgen für einen durchdringenden Fäkalgeruch, bis zu fünf Prozent der Eber sind davon betroffen. „Beim Braten riecht deren Fleisch wie eine Bahnhofstoilette“, bringt es Jörg Boves auf den Punkt.
Derartiges Fleisch ist natürlich nicht zum Verzehr geeignet. Das bedeutet für Mäster, Schlachthof und Wurstfabrik wirtschaftliche Einbußen.
Eine Alternative könnte die sogenannte immunologische Kastration sein. Dabei wird die Hormonbildung durch Antikörper für etwa vier Wochen auf null heruntergefahren. Im Ausland, zum Beispiel in Belgien, ist das auch in Deutschland zugelassene Verfahren seit Jahren weit verbreitet. Doch Handel und Fleischindustrie hier fürchten, dass diese Art der Behandlung vom Verbraucher abgelehnt wird und setzen deshalb verstärkt auf die Ebermast, also die Haltung unkastrierter Tiere.
Dabei müssen in der Fleischfabrik die „Stinker“ aussortiert werden. Große Fleischproduzenten behaupten, den damit verbundenen kostenintensiven Aufwand im Griff zu haben — kleine Schlachthöfe dagegen können ihn kaum leisten. „Sie bleiben auf der Strecke“, glaubt Boves. Um Abschläge zu vermeiden, kauften die verbliebenen Betriebe Fleisch dann nur noch von Erzeugern, die mit großen Genetik-Konzernen zusammenarbeiten, die das „Stinker“-Problem züchterisch bearbeitet haben.
Der 45-jährige Boves hat erst kürzlich ein eigenes Zuchtprojekt gestartet, um sich in Zusammenarbeit mit einigen regionalen Metzgereien mit besonders hochwertigem Fleisch von der Massenware abgrenzen zu können (die WZ berichtete). Diese Arbeit sieht er nun bedroht. Denn LEH und Fleischindustrie wollten ihre Marktmacht ausbauen, kleine Schlachthöfe und Metzger ausschalten.
Wie er seinen eigenen Betrieb weiterentwickeln soll, ist Jörg Boves derzeit ein Rätsel. „Mit der immunologische Kastration könnte ich morgen anfangen“, sagt der Landwirt. Doch er und viele andere familiengeführte Betriebe hätten Angst, damit eine Fehlentscheidung zu treffen.
Von der Landwirtschaftskammer Rheinland ist derzeit keine Entscheidungshilfe zu erwarten. Wie Pressesprecher Bernhard Rüb im Gespräch mit der WZ erklärt, könne man den Landwirten noch keine Handlungsempfehlungen geben, da die notwendigen Untersuchungsergebnisse fehlten. So sei der verwendete Impfstoff bei der immunologische Kastration aus seiner Sicht nicht unproblematisch, die Selektion von „Stinkern“ aufwändig — und das Züchten von Tieren ohne Ebergeruch langwierig. Rüb befürchtet deshalb, dass eine Entwicklung der vergangenen Jahre sich weiter fortsetzt: Immer mehr kleine Schweineerzeuger verschwinden vom Markt. „Allein im Vorjahr haben zehn Prozent aller Ferkelerzeuger in NRW aufgegeben“, sagt Bernhard Rüb.