Hospizbegleitung „Ich bin da, ich bleibe bei Ihnen“
St. Tönis · Hanni Röttsches ist ambulante Hospizbegleiterin. Die Gruppe von Ehrenamtlern feiert in St. Tönis ihr 20-jähriges Bestehen. Ein bewegendes Porträt einer starken Frau, die Sterbenden hilft.
Warum geben Sie dem Thema Sterben und Tod in Ihrem Leben freiwillig so viel Raum, Frau Röttsches? Hanni Röttsches, 74, hebt fast abwehrend beide Hände und lehnt sich im Stuhl zurück: „Ich wusste, dass die Frage kommt.“ Sie schüttelt den Kopf: „Ich kann sie nicht genau beantworten.“
Vielleicht, sagt sie, habe sie schon im Mutterleib etwas gespürt. Ihr Vater fiel im Kriegsjahr 1944. Ihre Mutter war zu der Zeit mit ihr schwanger. „Vielleicht habe ich das Ganze mitgekriegt.“ Als sie das sagt, sitzen wir im Geburtshaus ihres Mannes an der Mühlenstraße am Esstisch. Es ist ihr Zuhause in St. Tönis, wo sie so viele Familien kennt und bestens vernetzt ist.
Der Familie Röttsches gehören viele helfende Menschen an
Sicher ist: Diese Zugewandtheit zu Menschen, zum Leben und zugleich keine Angst vor dem Tod zu haben, „ist mir von zu Hause vermittelt worden“. Sie selber wurde Arzthelferin, eine weitere Arzthelferin, zwei Krankenschwestern, einen Rettungssanitäter gibt es in der Familie. „Meine Mutter hat schon überall geholfen, wo Not am Mann war.“ Wenn es einen Todesfall in der Nachbarschaft gab, dann half sie dort. Schon die Kinder erlebten Totenwachen. So war das am Niederrhein. Selbstverständlich.
Hanni Röttsches, Jahrgang 1945, gebürtige St. Töniserin, ist Mitbegründerin der ambulanten Hospizinitiative in ihrer Heimatstadt. Seit 20 Jahren besteht die Gruppe. Zurzeit gehören ihr sieben Frauen an. Sie begleiten Sterbende, besuchen sie regelmäßig zu Hause, im Krankenhaus, im Seniorenheim oder im Hospiz. Sie sind Ansprechpartner für Angehörige, die das wünschen.
Sterbebegleiterin möchte Röttsches sich trotzdem nicht nennen. „Nennen Sie mich ambulante Hospizbegleiterin. Denn ich bin auf dem Weg auch eine Lebensbegleiterin.“ Der Tod solle in der Arbeit nicht im Vordergrund stehen. Deshalb sei sie froh, wenn ihre Betreuung nicht erst „kurz vor Toresschluss“ beginne. Manchmal seien sogar gemeinsame Aktivitäten möglich. Eine Frau hat Hanni Röttsches mit zu einem Konzert des Mandolinen-Orchesters St. Tönis genommen. Hanni Röttsches spielt dort mit.
Ein schwieriger Spagat
zwischen Distanz und Nähe
Die 74-Jährige erfüllt die überkonfessionelle und ehrenamtliche Aufgabe zwischen „Distanz und Nähe“. Immer auch ein schwieriger Spagat für Röttsches – bei aller Erfahrung. „Wenn man jemanden lange begleitet und der Mensch stirbt, dann bin ich traurig. Das stecke ich nicht schnell weg.“ Die längste Begleitung dauerte zwei Jahre. Da geht es im Austausch „auch um mein Leben“, sagt Röttsches. Die Gespräche seien ja keine Einbahnstraße.
Ihr helfe es, sich an das Bett des toten Menschen zu setzen und Abschied zu nehmen. „Dann werde ich ruhig.“ Meist pflückt sie im eigenen Garten eine Blume und legt sie dem Toten in die Hände. Ein Ritual des Abschieds, das auch ihr hilft.
Und Hanni Röttsches setzt sich hin und schreibt die Erlebnisse rund um diese ambulante Begleitung auf. Ihre Schweigepflicht wahrt sie. Ein Text beginnt so: „Gestern ist Frau X. gestorben, die ich fünf Wochen begleitet habe. Es ist Nacht und meine Gedanken und Gefühle lassen mich nicht schlafen. Darum versuche ich jetzt, durch das Schreiben zur Ruhe zu finden und meine Emotionen zu verarbeiten.“
Frau X. hatte Krebs. Die Begleitung war nicht einfach. Die religiöse Frau klagte viel, wollte nicht mehr leben und machte im nächsten Augenblick Zukunftspläne. Für Betreuerin Hanni Röttsches ein „Wechselbad der Gefühle“. Sie hatte mit dem „ständig wiederkehrenden Wehklagen große Probleme“, fragte sich, ob sie die richtige Begleiterin für diese Frau sei. Später öffnete sich die Sterbende für ihre Begleiterin. Das Vertrauen zueinander wuchs.
Röttsches’ Handreichung war nicht nur im übertragenen Sinne gewünscht. Dabei achtet Hanni Röttsches stets darauf, dass die Hand der anderen Person immer auf der ihrigen liegt. So kann der Sterbende seine jederzeit von Röttsches’ lösen. „Halt geben, nicht festhalten“, sagt die St. Töniserin dazu. Das ist auch Begleitung auf dem schwierigen Gesprächsweg, bis der sterbende Mensch von der Rebellion gegen die Krankheit und Unausweichlichkeit zur Akzeptanz kommt.
Verlässlichkeit, auch diese sei für ihre Tätigkeit immens wichtig. Sätze, die Hanni Röttsches immer wieder sagt, sind „Ich bin da“ oder „Ich bleibe bei Ihnen“. Verlässlichkeit gelte übrigens auch gegenüber den Angehörigen, denen sie Zeitinseln verschaffen kann, um Alltäglichkeiten zu erledigen und den Kranken in guten Händen zu wissen. Röttsches: „Angehörige müssen auch mal hören, dass sie die Begleitung gut und richtig machen.“
Begleiterinnen dürfen und
müssen Gefühle zulassen
Pflegerische Tätigkeiten erledigen Röttsches und die anderen Ehrenamtlerinnen nicht. Sie seien keine Konkurrenz zu Pflegestationen oder -diensten.
Gefühle zulassen, auch das ist für Begleiterinnen wichtig. Ehrlich sein, da sein, anwesend, auch ohne dass erzählt werden muss. Einmal im Monat treffen sich die anderen aus der ambulanten Hospizgruppe, um sich miteinander auszutauschen.
Wie viele Menschen sie in den 20 Jahren begleitet hat, weiß Hanni Röttsches nicht genau. Der jüngste Mann war um die 50. Zurzeit begleitet sie eine 94-Jährige. Auch ihren ehemaligen Dirigenten des Mandolinen-Orchesters, dem Hanni Röttsches im Alter von 13 Jahren beitrat, unterstützte sie später als ambulante Hospizhelferin. Manchmal nahm sie ihr Instrument mit und spielte Gitarre. Einmal stellte sie ihm das Instrument behutsam aufs Bett, nahm seine Hand und legte sie auf die Gitarre. Dann strich Röttsches über die Saiten. Er konnte die Schwingungen spüren. Die Freude in den Augen des Todgeweihten zu sehen, das war, sagt Röttsches, „ein überaus bewegender Augenblick“.