“Mobile Retter“ in Willich Eine App, die Leben retten kann
Anrath · Vor zwei Monaten ist im Kreis Viersen die App „Mobile Retter“ gestartet. Fast 400 Ersthelfer sind registriert. Sie werden bei einem Herzstillstand in ihrer Nähe alarmiert, um Erste Hilfe zu leisten. Lars Greiner aus Anrath war schon als Retter im Einsatz.
Lars Greiner hat es sich schon auf der Couch vor dem Fernseher gemütlich gemacht, als sein Smartphone an jenem Freitagabend Ende November einen schrillen Alarm von sich gibt. Greiner weiß sofort: Jetzt geht es um Leben und Tod. Als Feuerwehrmann hat er Vorkehrungen für diese Momente getroffen, in denen jede Sekunde zählt. Der Autoschlüssel liegt griffbereit, in die Schuhe muss er nur reinschlüpfen. Er rennt zum Auto und fährt zum 300 Meter entfernten Ziel in Anrath, wo ein Mann regungslos und blau angelaufen auf dem Wohnzimmerteppich liegt und darauf wartet, reanimiert zu werden.
Vor rund zwei Monaten ist im Kreis Viersen die App „Mobile Retter“ gestartet. Die Idee: Ärzte, Rettungsschwimmer, Rettungsdienstler, Feuerwehrleute, Arzthelfer, Pfleger, Medizinstudenten oder Betriebssanitäter agieren in ihrer Freizeit als Ersthelfer – und ergänzen den Rettungsdienst. Geht bei der Kreis-Leitstelle ein Notruf wegen eines Herz-Kreislauf-Stillstands ein, wird zusätzlich zum Rettungsdienst die Retter-App aktiviert.
Denn die Profis brauchen in der Regel sechs bis zwölf Minuten, um zum Einsatzort zu gelangen. Wertvolle Zeit, in der Gehirnareale unwiderruflich zerstört werden können: „Nach vier Minuten fängt das Gehirn an abzusterben. Mit einer Rate von zehn Prozent pro Minute. Nach zehn Minuten ist über die Hälfte nachhaltig geschädigt“, erklärt Greiner. Genau das sollen die Ersthelfer durch Erste Hilfe bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes verhindern.
Ein Algorithmus sucht vom Standort des Opfers über GPS in Sekunden nach bis zu drei verfügbaren Ersthelfern, meist im Radius von 400 bis 800 Metern. Entscheidend ist, dass es dem Ersthelfer möglich ist, in unter viereinhalb Minuten vor Ort zu sein, der aktuelle Verkehr wird eingerechnet. Die Nutzer der App befinden sich 24 Stunden in Bereitschaft, es sei denn, der Pause-Modus ist aktiviert – etwa wenn ein Einsatz wegen Krankheit nicht möglich ist. Der Alarm auf dem Handy ertönt auch, wenn es auf lautlos gestellt ist, die Notfall-Benachrichtigung verdrängt alles auf dem Bildschirm. Erst wenn ein Ersthelfer den Einsatz annimmt, wird die Adresse des Opfers freigeschaltet. Die App generiert zudem einen Nachweis, mit dem man sich bei Angehörigen an der Haustür ausweisen kann.
Dass nur bestimmte Berufsgruppen Ersthelfer werden können, hat mit den spezifischen Abläufen, aber auch mit den Erlebnissen zu tun, die bei einem Einsatz warten. Lars Greiner macht als Feuerwehrmann zwar regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse, ist ansonsten medizinisch aber nicht ausgebildet. Er weiß jedoch, wie er sich in Extremsituationen verhält und wie er sie verarbeitet. Auch, wenn Menschen sterben. Für ihn wie für sechs weitere Kameraden vom Feuerwehrlöschzug Anrath war es nun, als die vor der Pandemie geplante Einführung der App kam, selbstverständlich mitzumachen: „Durch die Feuerwehr bin ich sowieso in Bereitschaft. Wenn jemand umkippt, kann ich ihn retten. Mit der App kriege ich das nun mit“, sagt er.
Nach einer Registrierung auf der Webseite folgten zwei Schulungen in St. Tönis. Zur App, den rechtlichen Bedingungen und der Herz-Lungen-Wiederbelebung, geübt an Puppen. Sind die Ersthelfer zu zweit, ist einer für die Herzdruckmassage, einer für die Beatmung zuständig. Wird ein dritter von der App gefunden, ist dieser beauftragt, einen Defibrillator zu besorgen – 40 Stück sind in öffentlichen Gebäuden in Willich verteilt, aber viele der Ersthelfer haben wegen ihres Berufs auch anderweitig Zugang. Er wird dann wichtig, wenn es zu einem Kammerflimmern kommt und das Herz angehalten werden muss, um wieder normal zu schlagen.
Nur eine Woche nach der Schulung dann der Ernstfall. Mit Greiner stehen gleich fünf weitere Ersthelfer bei der aufgelösten Frau des Opfers auf der Türschwelle. Neben einem Notfallsanitäter auch drei von der DLRG, die zufällig zusammen unterwegs und gut ausgestattet sind. Sie helfen dem Mann mit einem Beatmungsbeutel, während Greiner sein Herz massiert. Dann wird durchgetauscht und auch weiter reanimiert, als der Notarzt eintrifft. Greiner begibt sich mit der Frau in den Rettungswagen, um ihr beizustehen.
Nach 40 Minuten gehen die Türen auf. Der Mann hat wieder Puls. Und dank des Eingreifens der Ersthelfers womöglich kaum Gehirnschäden erlitten. Doch das wird nie aufgelöst. Denn ein paar Stunden später stirbt er im Krankenhaus. „Wenn es einen bestimmten Auslöser für den Herzstillstand gibt, kommt häufig jede Hilfe zu spät“, sagt Greiner. Von rund 70 000 Menschen, die bundesweit pro Jahr einen Herzstillstand erleiden, könnten aber um die 10 000 durch Laien-Reanimationen gerettet werden.