Willich: Bericht vom Kampf ums Brot
Geschichte: Leonid Grutenko erzählte in der Gesamtschule von seiner Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland.
Willich. Gespannt hören sie zu. Die Schüler der 10 B der Willicher Gesamtschule in ihrem Klassenraum, als der Ukrainer Leonid Grutenko aus seiner Zeit in Deutschland erzählt.
Während des Krieges wird er - zusammen mit seiner Schwester - als Zwangsarbeiter nach Krefeld gebracht. Dort muss er Schiffe der IG Farben im Uerdinger Hafen entladen. Er nutzt die Gelegenheiten, die sich beim Schleppen von Zuckersäcken ergeben, etwas für die Gefangenen abzuzwacken.
Als er erwischt wird, kommt er ins "Zuchthaus Anrath". Eine Odyssee durch die Außenlager des KZs Buchenwald schließt sich an, bis er von den Amerikanern am 2. Mai befreit wird und fortan als Rotarmist in der sowjetischen Besatzungszone dient. Erst 1950 kann er in seine Heimat zurückkehren.
Grutenko erzählt auf russisch, die Maximilian-Kolbe-Stiftung finanziert und betreut seinen Aufenthalt in Deutschland. Sie stellt ihm auch die Übersetzerin Flora Ghazale an die Seite. Der 83-Jährige erzählt anschaulich, mit flinken, beredten Gesten und eindringlichen Blicken aus den wachen blauen Augen unter den ausdrucksstarken Brauen.
Er erzählt vom Hunger, der herrschte, nur 320 Gramm Brot stand den Gefangenen zu, die in einem Salzbergwerk schwere Blöcke schleppen musste. Da wurde nicht gemeldet, wenn im Schlafraum jemand starb, was fast jede Nacht passierte. Der Tote wurde vielmehr eingereiht, wenn man sich in Sechserreihen zur Verteilung der Essensrationen anstellte.
Einmal mussten sie Brote abladen, die auf einer von Menschen gezogenen Kutsche gelieferten wurden. "Sie sollten durch ein Fenster geworfen werden." Eines verfehlte das Ziel. Ein Tumult entstand, jeder versuchte das Brot für sich zu ergattern. Schließlich landete es im Plumpsklo.
Ein Gefangener fischte es heraus, "wusch es mit Wasser ab und aß es auf." Da blicken sich die Schüler betroffen an. Jetzt wissen sie, wie hungrig man war.
Seine Häftlingsnummer, die seinen Namen in den Lagern ersetzte und auslöschte, "26, 3, 48" kann er immer noch auf Deutsch hersagen, wobei er automatisch eine stramme Haltung annimmt.
80 Minuten lauschen ihm die Schüler, bevor sie Fragen stellen können. "Was hat Ihnen immer wieder Kraft gegeben?" will eine Schülerin wissen. "Heute muss ich nicht sterben", habe man sich von einem Tag zu anderen gesagt. "Frühestens morgen."
Schließlich bedankt er sich bei den Schülern für ihre Aufmerksamkeit. Er posiert noch mit ihnen fürs Fotoalbum und hinterlässt ihnen seine Adresse, damit sie ihm schreiben können.
Als "toll" bezeichnet der Lehrer Matthias Otto die Begegnung. "Das ist wertvoller als 100 Arbeitsblätter." Zwar wurde der Termin sehr kurzfristig angeboten, direkt am ersten Schultag nach den Herbstferien, und deshalb konnte keine Vorbereitung erfolgen. "Aber ich wusste, dass die Klasse da mitmacht." Und das Nazi-Regime ist ohnehin Stoff in diesem Halbjahr.