Willicher Stadtgeschichte: Die Preußen taten sich schwer
Vom Wiener Kongress bis zur Reichsgründung: Die Willicher legten ihre niederrheinische Lebensart nicht ab.
Willich. 17. Januar 1814: In Anrath traben auf struppigen Pferdchen die ersten Kosaken ein, Vorhut der siegreichen Verbündeten über Napoleon. Die fast 20-jährige Franzosenherrschaft ist passé, die Trikolore wird durch preußisches Schwarz-Weiß ersetzt. Und preußisch wird der Linke Niederrhein bis 1945 bleiben.
Die neuen Herren wollten die liberale Lebensart der Rheinländer und den Schlendrian ihrer Verwaltung mit preußischen Tugenden wie Sittenstrenge und Pflichterfüllung auf Vordermann bringen - auch durch umfassende Kontrolle.
Aber sie taten sich schwer. Ihre Beamten kamen größtenteils aus dem evangelischen Alt-Preußen. Sie verstanden das behäbige Platt der Niederrheiner nicht und schon gar nicht deren treu katholische Frömmigkeit.
So unnötig erscheinende Rituale wie die alljährliche Wallfahrt nach Klein-Jerusalem/Neersen wurden nur mit Bedenken genehmigt, 1824 wurde in Schiefbahn die Polizeistunde eingeführt. Auf den Tanzböden überwachten preußisch-blaue Gendarmen alkoholisch-blaue Raufbolde.
Vor allem aber machte den gestrengen neuen Herrschern die lasche Auffassung der örtlichen Verwaltungsträger zu schaffen, die vielfach schon Napoleon gedient hatten. Der Landrat in Krefeld bekam Zustände, wenn Willichs Bürgermeister Marseille (1840 - 1868) das Verschwinden der Steuerverzeichnisse von 1812 bis 1831 einräumte. Andererseits war man so einsichtig, Bewährtes zu bewahren: Der Code Napoléon blieb bis zum Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuches (1901) in Kraft.
Wirtschaftlich war es eine beschwerliche, von Umbrüchen in Atem gehaltene Zeit. Die Leinenweberei wich unter dem Druck der billigeren schlesisch-böhmischen Konkurrenz der Baumwollweberei, die wiederum wurde überwiegend durch Tausende von Samtwebstühlen in neu gebauten Weberhäuschen verdrängte.
Anrath, ein "Dorf ohne Land", hing bald am seidenen Faden Krefelder Unternehmer. In Neersen wuchs die Zahl der Webstühle von 124 (1828) auf 420 (1858).
Seit 1851 war im Schloss sogar eine Baumwollspinnerei untergebracht, die aus zwei Riesenschornsteinen mächtig Dampf machte - was auf die Lunge ging: Wenn eine Frau in einer solchen Fabrik arbeitete, wurde sie durchschnittlich nur 30 Jahre alt.
Bei den Hauswebern war der Verdienst gering und von der Mode abhängig. Eintönige Bewegung in schlechter Luft und überfüllten Räumen bei einem 15-stündigen Arbeitstag, ruinierte den Körper. Durch bleiche Gesichtsfarbe, krumme Beine und schwächliche Muskulatur geprägt, währte ein Weberleben im Schnitt nur 40 Jahre.
Auskömmlich leben konnte der Weber nur, wenn Kinder da waren, um mitzuarbeiten. Aus Neersen wird berichtet, wie der einzige Polizeibeamte am Ort oft genug damit beschäftigt war, elfjährige Jung-Weber zwangsweise zur Schule zu bringen - gegen den heftigen Protest der Eltern. (Fortsetzung folgt)