Düssel-Flaneur Meine Stadtführung mit Großmutter
Düsseldorf · Ein Zeitreise von 1951 bis 2009. Oder: Die Hundertjährige, die in fünf alten Reiseführern blätterte und verschwand.
Im Grunde genommen beginnt die Geschichte ganz realistisch: Wir treffen uns im Konditorei-Café Heinemann am Martin-Luther-Platz. Meine Großmutter trägt wie immer einen Hut, weshalb sie in ihrem Viertel auch „die Gräfin“ genannt wird. Sie bestellt: „Ein Kännchen Kaffee bitte.“ Dann schaut sie mich einen Sekundenbruchteil fragend an und korrigiert mit kaum merklichem Lächeln: „Zwei Kännchen!“ Für eine Hundertjährige ist sie extrem fit: Ihre Beine brauchen zwar einen Rollator, doch ihr Hirn lenkt sie durch den Alltag wie ein Senioren-E-Bike, und heute ist sie quasi meine Assistentin. Oder ich ihr Assistent? Mal schauen. Vor uns auf dem Kaffeehaustisch liegen fünf Zeitschriften. Eigentlich sind es keine richtigen Zeitschriften: Es sind Merian-Hefte. Reiseführer im Magazinformat, mit Reportagen und Essays zu einer bestimmten Stadt oder einer bestimmten Region. Der Unterschied: Stern oder Brigitte schmeißt man nach dem Lesen in den Papiercontainer, Merian-Hefte stellt man neben Büchern ins Regal, stapelt sie zumindest – und wenn in der Wohnung kein Platz ist, dann eben im Keller oder auf dem Speicher.
Meine Großmutter, die man nicht „Oma“ und schon gar nicht „Omma“ nennen darf, sondiert die Auswahl. Vor uns: Alle zur Stadt Düsseldorf erschienenen Ausgaben, fünf an der Zahl. Die von 1951 und 1974 habe ich in ihrer Wohnung im Regal gefunden, die „neueste“ habe ich mir 2009 selbst gekauft und die beiden von 1987 und 1996 für diesen Text in einem Antiquariat besorgt.
Der Plan: Meine Großmutter und ich – wir unternehmen eine kleine Merian-Heft-Zeitreise, tasten uns chronologisch vor, und dann reden wir über Fotos und Themen, und zumindest bei den ersten beiden Heften kann meine Großmutter als Zeitzeugin womöglich Dinge erzählen, die ich nicht wissen kann, weil ich noch nicht auf der Welt oder noch ein Kleinkind war.
Meine Großmutter ist 1910 geboren, bei Erscheinen der ersten Merian-Ausgabe über Düsseldorf war sie also 41 Jahre alt. Verheiratet, Mutter von zwei Söhnen. Und nun nimmt sie eben dieses 1951er Heft vom Stapel. Auf dem Titel: das Schloss Benrath im Abendlicht. Meine Großmutter runzelt die Stirn, setzt ihre Lesebrille auf und rezitiert die Bildunterschrift: „Im Schloß Benrath besitzt Düsseldorf eine Stätte ebenso vornehmer wie anmutiger Repräsentation.“ Dann sagt sie: „Damals haben wir Schloss noch mit scharfem S geschrieben.“ Zwei Sekunden später legt sie nach: „Da waren früher immer so tolle Staatsempfänge, die englische Königin Elisabeth, der Schah von Persien, der spanische König Juan Carlos, François Mitterand, Michail Gorbatschow – und die schwedische Königin Silvia, aber bei der war es ja auch keine Überraschung, die war doch in Düsseldorf auf der Schule.“
„Super“, sage ich. „Das nehmen wir mit rein in die Kolumne.“
„Sogar der Honecker durfte mal vorbeikommen“, sagt sie. Am liebsten würde meine Großmutter jetzt weiter über die Schloss-Benrath-Prominenz fachsimpeln. Aber das geht natürlich nicht. Mit einer Hundertjährigen kann man nicht stundenlang im Kaffeehaus abhängen, mehr als eine Stunde ist zu stressig für sie, sagt der Hausarzt. Und wir haben ja noch vier Merian-Hefte vor uns – und sind mit dem ersten noch nicht mal durch.
Wir blättern also weiter, stoßen auf schöne Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Oberkasseler Brücke, Wilhelm-Marx-Haus und Königsallee zu sehen sind. Wir „müssen“ jetzt über den „Boulevard des Westens“ – so die Überschrift des Merian-Artikels – reden, dessen Nordende sich wenige Schritte entfernt vom ins Kö-Center integrierten Café Heinemann befindet: Im 1951er Merian-Heft steht nämlich, „Kenner“ bevorzugten die Kö-Perspektive „aus den schönen und bequemen Stühlen der kleinen Cafégärten, die zwischen der Fahrbahn und dem Gehweg unter den alten Kastanien vom Frühling bis in den Herbst hinein wie Inseln für Verzauberte gelandet sind.“
Mich fasziniert diese romantische Fünfziger-Jahre-Sicht auf Düsseldorfs, wenn nicht gar Deutschlands berühmteste Straße. Ich selbst habe in Jahrzehnten ein einziges Mal an der Kö unter freiem Himmel einen Kaffee getrunken, und das nur, weil ich Besuch aus Australien hatte. Und auch heute kenne ich – anekdotische Evidenz – keinen einzigen An-der-Kö-Kaffee-Trinker. War das früher anders? Trafen sich die Einheimischen in ihrem Alltag an der Straße, wo heute die Touristen an den gar nicht mal so vielen Gastro-Terassen Platz nehmen? Meine Großmutter, die trotz ihrer schicken Hüte allenfalls so glamourös wie Angela Merkel ist, unterbricht meinen Gedankenfluss: „Also, wir waren auf der Kö immer nur, um im Zweibrücker Hof zu kegeln.“
Längst ist meine Großmutter die einzige Überlebende ihres Kegelclubs. Und im ehemaligen Restaurant Zweibrücker Hof an der Königsallee 92 residiert inzwischen eine Maredo-Filiale. Vermutlich ist auch die dortige Kellerkegelbahn nicht mehr in Betrieb, denn wer geht schon zum Kegeln ins Steakhaus? Wir blättern weiter durch das Heft und passieren im Artikel über die „Modestadt Düsseldorf“ einen Satz, den ich mir vorher angestrichen habe: Es geht um die „fröhlichen Mädchen und eleganten Frauen“, die „auf der Kö shopping gehen.“ Über diesen unerwarteten Wort-Fund (1951!) habe ich mich ein wenig gefreut – und frage: „Hast du damals auch das Wort Shopping benutzt?“
Meine Großmutter, die nur einen Gute-Nacht-Satz Englisch spricht („Sleep you very well in your Bettgestell.“), aber trotzdem mit jedem kommunizieren kann, klappt das Merian-Heft zu, streicht über den Umschlag, öffnet die erste Seite – so, als suche sie etwas. „Kein Stempel“, sagt sie. „Dein Großvater hat sonst immer Stempel in die Bücher gemacht.“ Ich erinnere mich an die Karl-May-Ausgaben, die bei mir in einem Regal im Keller stehen. „In den Schluchten des Balkan“, „Der Schut“ und „Der Öl-Prinz“. Mein Großvater hat sie mit durchsichtiger Schutzfolie eingebunden, und auf der ersten Seite und manchmal auch zwischendurch findet sich der erwähnte Stempel. Entweder: „Schone das Buch“. Oder: „Bitte das Buch sauber halten.“
„Aber das sind ja auch keine Bücher“, sage ich mit Blick auf die „Kollektion“ vor uns. „Das sind Magazine.“
Tatsächlich stammen die beiden Merian-Hefte aus den Jahren 1951 und 1974 aus dem Fundus der Bücherei Brück. Die Bücherei Brück, das war die gewerbliche Leihbücherei, die mein Großvater – ein Diplom-Bibliothekar – von Anfang der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre an der Sternstraße 52 in Düsseldorf-Pempelfort betrieben hat. Laufkundschaft-Lage, auf Höhe der Straßenbahnhaltestelle, in einer kleinen Passage. Stammkunden liehen bevorzugt rote Goldmann-Krimis von Edgar Wallace und Agatha Christie oder Liebes- und Wildwest-Romane, und wenn dann mal einer kam, der etwas Anspruchsvolleres suchte, war mein Großvater – so die Familien-Legende – immer stolz, beraten zu dürfen. Kurioserweise war in dem Haus, das meine Großeltern nach dem Krieg aufgebaut haben, nach der Jahrtausendwende auch ein Jahr lang Deutschlands erste Hörbuchhandlung untergebracht (heute an der Nordstraße). Scheint also eine bücheraffine Umgebung gewesen zu sein.
„Dass man mit einer Leihbücherei Geld verdienen konnte“, sage ich.
Meine sparsame Großmutter zieht ihre hundertjährige Stirn in (noch mehr) Falten: „Damals konnte man das.“
Unsere Kaffeekännchen sind halb leer, und wir haben ohnehin nur noch rund 20 Minuten Zeit. Eigentlich wollte ich jetzt über die weiteren 1951er Merian-Heft-„Kapitel“ sprechen: Gustav Gründgens und das Düsseldorfer Schauspielhaus, Mutter Ey und die Künstlerszene, Kay Lorentz und das Kommödchen, der „Karneval in Klein-Paris“, die Hausbrauereien.
Doch weil diese Themen mehr oder weniger Merian-Heft-Stammgäste sind, die immer wieder auftauchen, schalte ich um auf Schnelldurchlauf. Wir springen ins Jahr 1974. In der ersten Merian-Ausgabe nach mehr als zwei Jahrzehnten Düsseldorf-Pause ist bereits die japanische Kolonie ein Thema, und Oberkassel wird – für mich durchaus überraschend – als das Viertel vorgestellt, „wo die Künstler ihre Ateliers haben.“
In der 1987er Ausgabe kommt der neugestaltete Südpark hinzu, garniert mit Düsseldorfer Scharfsenf plus Düsseldorfer Eishockey plus Düsseldorfer Werberszene. 1996 drängt sich dann erstmals der Rheinturm aufs Merian-Cover. Trendforscher Matthias Horx bleibt in einer Königsallee-Analyse an der goldprotzigen Klischee-Oberfläche kleben, die Ratinger Straße erhält ein Szene-Porträt, und es geht um Düsseldorfs „Wandel vom einstigen Schreibtisch des Ruhrgebiets zum Desktop der Nation.“ Dazu gibt es Fotos der kurz zuvor fertig gestellten Freitreppe an der Uferpromenade und Modelle der im Bau befindlichen Gehry-Bauten. Nebenbei wird erwähnt, dass Claudia Schiffer, „das derzeit teuerste deutsche Model“, sieben Jahre zuvor in der „Edel-Disko“ Checkers, also um die Ecke vom Café Heinemann, entdeckt wurde.
Meine Großmutter, die sich nie sonderlich für Mode interessiert und in ihrem Leben noch nie eine Hose getragen hat, entdeckt beim Durchblättern etwas, das sie viel mehr interessiert: ein Foto des einzigen Chocolatiers in Deutschland, „der diesen Titel tragen darf“. Er präsentiert der Kamera eine Torte mit einer essbaren Schneider-Wibbel -Illustration, eigens für „das neue Merian-Heft gebacken.“ Der Chocolatier heißt Heinz-Richard Heinemann und ist Chef des in und um Düsseldorf ansässigen Kuchen- und Pralinenimperiums, zu dem auch das Café gehört, in dem wir in diesem Moment sitzen.
„Der ist immer noch aktiv?“, sagt meine Großmutter, und es klingt wie eine Frage. Sie beäugt mein Smartphone. Eine ihr eigene Aufforderung – sie geht mit der Zeit –, das bitte schnell „in diesem Internetz“ nachzuprüfen.
Zwei Klicks später wissen wir, dass Heinz-Richard Heinemann 2019 mit dem Pastry-Award ausgezeichnet und 2018 in Mailand zum „World Pastry Star“ gekürt wurde. Düsseldorf-Mönchengladbacher Konditorei-Tradition mit internationaler Strahlkraft.
„Sollen wir an dieser Stelle nicht besser Schluss machen?“, frage ich.
Meine Großmutter nimmt das 2009er Merian-Heft zur Hand, schaut auf den Titel, der Rheinturm und Gehry-Bauten zeigt, blättert kurz, hält die Hand zum Gähnen vor den Mund – und sagt: „Ja.“
Um Zeit zu sparen, gehe ich zum Zahlen an die Kasse. Als ich zurück bin, ist meine Großmutter verschwunden. Da liegen nur die fünf Merian-Hefte auf dem Tisch, und daneben steht ein Kännchen Kaffee. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn meine 1910 geborene Großmutter, die Helmut Schmidt mochte und Helmut Kohl wählte, mich im Jahr 2020 wirklich ins Café Heinemann hätte begleiten können. Als Hundertjährige habe ich sie nur bezeichnet, weil sich das besser anhört und ich so schlecht in Mathe bin. Tatsächlich ist meine Großmutter stolze 97 geworden, und ich habe schon lange den Wunsch, mal eine Geschichte zu schreiben, in der sie vorkommt.