Polizeiskandal in Lügde „Reul steht am Zaun, tut aber nichts“
Detmold/Düsseldorf. · Verschwundene Beweise, nicht weitergereichte Hinweise – nach dem tausendfachen Missbrauch auf einem Campingplatz in Lügde ziehen sich die Pannen wie ein roter Faden durch den Fall. Bei der Bewertung aber gibt es Streit.
Zuletzt verschwanden Beweisstücke aus dem Gebäude der Kreispolizei in Detmold. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) spricht von Polizeiversagen – doch Polizeivertreter und Justiz haben Einwände gegen die generelle Kritik des Ministers.
Was wirft Innenminister Herbert Reul den Behörden vor?
Im Fall Lügde hätten sich bei Polizei und Jugendämtern Pannen und Fehler gehäuft, der Minister spricht unumwunden von Behörden- und Polizeiversagen. Er ging mit politischem Instinkt schnell nach vorne – damit er der Deutungshoheit nicht hilflos hinterherhetzen muss. Nach seiner Auffassung hätte der sexuelle Missbrauch von Kindern auf dem Campingplatz zumindest nach 2016 verhindert werden können, denn schon damals gab es Hinweise. Doch erst zwei Jahre später wurde der Hauptverdächtige festgenommen. Reuls markiger Spruch: „Meine Oma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt.“
Was sagt die Polizeigewerkschaft zu der Kritik des Ministers?
Der NRW-Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, Michael Mertens, warnt vor einer Vorverurteilung von Polizisten. „Das Krisenmanagement des Innenministers sollte nicht nur darin bestehen, Polizisten an den Pranger zu stellen“, sagte Mertens. ,„Erst die Fakten, dann das Fazit.“ Sebastian Fiedler, Bundes- und NRW-Landesvorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten, griff Reul frontal an (siehe Titelseite). Die lippische Polizei sei oft gefeiert worden wegen geringer Fallzahlen. Zum Dank sei aber immer Personal abgebaut worden. Dabei habe die Behörde „sehr viel mit Sexualstraftätern“ zu tun, sagte Fiedler, nach dessen Angaben aktuell bis zu 75 Kollegen zu wenig in der Behörde arbeiteten.
Was ist über die verschwundenen Beweismittel bekannt?
Nach Angabe der Staatsanwaltschaft sind 155 CDs und DVDs verschwunden, die die Ermittler am 6. Dezember 2018 auf dem Campingplatz und in der Wohnung des 56-jährigen Hauptverdächtigen aus Lügde gefunden hatten. Die Datenträger in einer schwarzen Mappe und in einem Aluminiumkoffer sollten am 30. Januar von einem sogenannten Auswerteraum, in dem auch Computer zur Auswertung bereitstehen, in einen extra eingerichteten Asservatenraum bei der Polizei Lippe umgelagert werden. Dabei fiel auf, dass das Material fehlte. Die internen Ermittlungen blieben erfolglos. Seit dem 20. Februar sind LKA-Beamte auf der Suche nach den Beweisstücken. Zuletzt gesehen wurden die Datenträger am 20. Dezember.
Ist das Verschwinden von Beweismitteln ein Einzelfall?
Nein, sagt der Bochumer Kriminologe Prof. Thomas Feltes. „Nach meinen Erfahrungen ist es durchaus nicht selten, dass Beweismittel im Laufe eines Strafverfahrens verschwinden oder nicht mehr auswertbar sind“, sagte Feltes. Zur Aufarbeitung des Skandals macht sich Feltes keine großen Hoffnungen. „Eine Fehlerkultur ist nach wie vor in der Polizei nicht wirklich etabliert. Fehler in dieser Institution werden in der Regel nicht wirklich aufgearbeitet, sondern eher vertuscht. Die Polizei tut sich nach wie vor schwer, zu bekennen, dass sie eben auch Fehler macht.“ Allerdings gebe es auch einige wenige positive Fällen, in denen Fehler gut aufgearbeitet worden seien.
Wie haben die Ermittler reagiert, als das Fehlen der Beweismittel festgestellt wurde?
Laut Staatsanwaltschaft stand die Frage im Vordergrund, ob die Datenträger versehentlich mit Asservaten aus anderen Verfahren vermischt und daher an andere Behörden abgegeben wurden. Die Suche in der Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft Detmold und bei der Polizei in Bielefeld blieb aber erfolglos.
Wie groß ist der Schaden für die Ermittlungen?
Ob auf den CDs und DVDs mit 0,7 Terabyte Datenvolumen auch kinderpornografisches Material war, ist nach Aussage des NRW-Innenministers nicht auszuschließen. Allerdings handelt es sich auf jeden Fall nur um einen Teil des insgesamt 14 Terabyte umfassenden sichergestellten Materials. Insgesamt wurden mehr als 13 000 Fotos und Videos mit kinderpornografischem Material gefunden – wobei darunter wohl auch Fotos von anderen Missbrauchsfällen waren, die die Tatverdächtigen über das Internet getauscht haben sollen. Verschwunden sind demnach rund fünf Prozent. Für eine Anklage dürfte das kaum Folgen haben.
Wie sieht die Justiz das?
Die Prüfungen der Staatsanwaltschaft Detmold sind nicht abgeschlossen. In einer Bewertung hatte die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm als Aufsichtsbehörde kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten bei Polizei und Jugendämtern gesehen. Später relativierte ein Sprecher: Die Einschätzung sei ein Zwischenstand und nicht in Stein gemeißelt.