Neuss: Der Priester, Politiker und Poet, Ernesto Cardenal las im Landestheater
Poesie der Freiheit: Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels las im RLT. Dazu gab es lateinamerikanische Musik.
<strong>Neuss. Sonntagmorgen in Neuss: Zwei ältere Herren sitzen an einem Tisch auf der Bühne des Rheinischen Landestheaters. Neben ihnen spielt eine Band lateinamerikanische Musik. Die Gesichter der beiden Männer wirken fast ein wenig gelangweilt. Der kleinere trägt eine schwarze Mütze, sein Gesicht ist umrahmt von einem Bart und langen, weißen Haaren. Er hat den Kopf in die Hand gestützt und beobachtet die Musikband. Sein Name ist Ernesto Cardenal. Die Musik verstummt. Jetzt sitzen die beiden Männer im Scheinwerferlicht und Cardenal fängt an zu lesen. Er liest das erste Wort und verwandelt sich im Handumdrehen: Keine Spur mehr von Langeweile oder Traurigkeit. Die Augen strahlen, Mimik und Gestik signalisieren Offenheit. Er liest ein Gedicht aus seiner Jugend, natürlich ein Liebesgedicht, denn es ist die Liebe zu den Frauen, die ihn zur Liebe Gottes und zur Revolution geführt hat. Ernesto Cardenal ist eine Ikone der Befreiungstheologie, eine schillernde Gestalt. Einer, der viele Wandlungen durchlebt hat: Vom südamerikanischen Patriziersohn zum Priester, vom Gottesmann zum Politiker und Staatsminister in Nicaragua. Doch zwei Konstanten gibt es in diesem Leben: Cardenal, den Dichter und Cardenal, den Revolutionär.
"Das Evangelium hat uns radikalisiert, ich bin durch das neue Testament zum Marxisten geworden."
(Ernesto Cardenal)
Als der Papst 1983 den Dom in Manuaga besuchte, erhob der Dichter die Faust und rief: "Viva la Revolucion." Inzwischen ist der 83-Jährige seit vielen Jahren vom Priesteramt suspendiert. Das Spenden der Sakramente habe keine Bedeutung mehr für ihn, sagt er im Interview. Dass sein Kampfgeist ungebrochen ist, zeigt die Auswahl der Gedichte, die er im Landestheater liest: Nach den verspielten, ironischen Liebesgedichten trägt er aus seinen Psalmen vor, in denen christlicher Glaube und revolutionärer Kampf eine organische Synthese eingehen. Hermann Schulz, Cardenals erster deutscher Verleger und langjähriger Freund, übersetzt die Gedichte. Die Vertrautheit der beiden ist während des Vortrags zu spüren. Unterbrochen wird die Lesung immer wieder von Stücken der Band "Grupo Sal". Der Dichter und die Musiker sind alte Bekannte und doch gelingt die Mischung nicht. Cardenals eindringliche, politische Lyrik über Diktatur und Folter, passt irgendwie nicht zu den Liedern über kleine Rosenverkäufer.Das letzte Gedicht, eine Hommage an einen im Kampf getöteten Freund, provoziert: "Sag den Freunden, die Hurensöhne der Konterrevolution haben mich getötet. Und sag ihnen, es ist mir scheißegal." ERNESTO CARDENAL
Geboren am 20. Januar 1925 in Granada/Nicaragua, Literaturstudium in Nicaragua, Mexiko und New York
Beteiligung an der gescheiterten April-Rebellion 1954 gegen Somoza, 1957-1959 Novize des Dichtermönchs Thomas Merton im Kloster
Theologiestudium in Mexiko und Kolumbien, Priesterweihe in Managua (1965)
Gründung der christlichen Kommune von Solentiname 1966, 1977 von Somoza-Truppen zerstört
Exil von 1977-1979, Sprecher der Sandinistischen Befreiungsfront im Ausland
Kulturminister der sandinistischen Regierung nach dem Sturz von Anastasio Somoza bis zur Auflösung des Ministeriums aus Kostengründen (1979-1987)
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1980
Austritt aus der FSLN 1994 aus Protest gegen den Führungsstil von Daniel Ortega