Wie die Franzosen Neuss prägten

Wandel der Stadt während der 30-jährigen Besatzung war vielschichtig.

Neuss. Vor 200 Jahren tobte die Völkerschlacht von Leipzig: tagelanges Gemetzel, Napoleons bunt gemischte Truppen gegen die erstmals vereinigten Heere von Preußen, Österreich, Russland und Schweden. Neuss war in jenen Oktobertagen des Jahres 1813 schon seit fast 30 Jahren französisch besetzt. Wenn Neusser an der mörderischen Schlacht beteiligt waren, dann auf französischer Seite. Eine Akte aus der Zeit nach dem Wiener Kongress, als Napoleon endgültig geschlagen war, listet vermisste Söhne der Stadt auf: Männer, die vielleicht beim Russlandfeldzug des Kaisers dabei waren, der für seine Truppen zum Desaster wurde, oder zu den 100 000 Toten von Leipzig zählten. Oder sie landeten in der Fremde — so wie ein Neusser, der in Kanada starb.

30 Jahre französische Besatzung hatten tiefe Spuren in der vormals kurkölnischen Stadt hinterlassen. Die Neusser konnten sich an die Fremdherrschaft gewöhnen — und ihre Vorteile allmählich erkennen und nutzen. Sie erlebten einen Modernisierungsschub: Gleichheit vor dem Gesetz, Rechtssicherheit, Gewerbefreiheit. Währung, Maße, Gewichte wurden vereinheitlicht. Gleichzeitig beseitigte die Säkularisation vertraute Strukturen, nicht zuletzt die Armenfürsorge, verschwanden jahrhundertealte Klöster wie das Quirinusstift, das Klarissenkloster, die Jesuitenanlagen — unwiderbringliche Verluste. Nur das Alexianerkloster, das sich ganz der Krankenpflege verschrieben hatte, blieb bestehen. Das katholische Leben in der Quirinusstadt litt allerdings nicht unter der Säkularisierung.

Jens Metzdorf, Leiter des Stadtarchivs, nennt eine erstaunliche Zahl: Zum Ende der Franzosenherrschaft lag der Anteil der Katholiken in Neuss bei mehr als 95 Prozent, er war damit höher als in Köln.

Vielschichtig war der Wandel während der 30 Jahre der Franzosenherrschaft. Jens Metzdorf betont, dass es in Neuss wie im übrigen Rheinland keine weit verbreitete Opposition gegen die neuen Machthaber gab. Viele profitierten; selbst die Säkularisation der Kirchengüter brachte über den Kauf und Weiterverkauf von katholischem Land und Gebäuden so manchem Bürger der Stadt Wohlstand ein — und das noch vom Papst gerechtfertigt. Kapital wurde angehäuft, ein neues Wirtschaftsbürgertum entstand.

Und dann waren die Franzosen geschlagen. Anfang Dezember 1813 setzten Preußen bei Neuss über den Rhein. Preußen: Das waren zu jener Zeit in den Augen der Rheinländer die Armen, die Rückständigen aus dem Osten, „Litauer“ genannt. Die Zeit der Fremdherrschaft war vorbei, die Preußen aber wurden nicht herbeigesehnt. Doch viele Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre ließen sich nicht mehr rückgängig machen.

Hat Neuss nun profitiert von der Franzosenzeit? Jens Metzdorf verweist auf den Entwicklungsschub für die Stadt. Sie war den nicht besetzten Gebieten für eine ganze Weile voraus. Wieder einmal waren Menschen, Waren und Ideen durchgezogen. Nun begann die Preußenzeit. Aus den „Litauern“ wurde eine Großmacht; ihre Stärke lag nicht zuletzt im Rheinland.