Die Stadt Datteln hat monatelang vergeblich eine geeignete Unterbringung für eine geistig behinderte und aggressive 16-Jährige gesucht, die nicht mehr in ihrer Familie leben konnte. Seit August 2024 fragte das Jugendamt mehr als 200 Einrichtungen an. Später half auch der Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) bei der Suche - vergeblich.
Schließlich wandte sich nach einer Eskalation im häuslichen Umfeld und einer Inobhutnahme durch das Jugendamt der Bürgermeister der Stadt, André Dora, in höchster Not mit einem Hilferuf an NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann. Ab Mitte April ist jetzt offenbar ein Platz für das Mädchen in Sicht, sagt der Dattelner Sozialdezernent Peter Wenzel.
Kaum Platz in regulären Einrichtungen
Der Fall wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit sogenannten Systemsprengern, Menschen mit besonders herausforderndem Verhalten. Sie bringen Betreuer oft an ihre Grenzen und können in regulären Wohngruppen oder stationären Einrichtungen kaum oder gar nicht untergebracht werden. Dies gilt sowohl für junge Menschen mit als auch für solche ohne Behinderung.
In NRW und auch bundesweit gebe es für behinderte junge Menschen mit besonders herausforderndem Verhalten nur sehr wenige geeignete Unterbringungsmöglichkeiten, teilte der LWL mit.
„Systemsprengerin“ gefährdet sich selbst und andere
Das 16-jährige Mädchen hat laut Stadt eine geistige Behinderung mit einem weit unterdurchschnittlichen IQ von 60. Der Grad der Behinderung beträgt 80 Prozent. Das Mädchen zeige immer wieder selbst- und fremdgefährdendes Verhalten, versuche zum Beispiel, Geschirr oder Nägel zu schlucken, laufe weg oder bedrohe - wie zuletzt - ihre Schwester mit einer Scherbe.
Mangels einer qualifizierten Einrichtung sei das Mädchen als Notmaßnahme seit Monaten in einem Hotel untergebracht worden - mit einem Pflege- und Betreuungsdienst rund um die Uhr, schreibt Dattelns Bürgermeister. Später kam sie in eine Wohnung, die eigentlich für Asylbewerber vorgesehen war, teilte die Stadt mit.
24/7-Security für eine 16-Jährige
Jeweils zwei Pflegekräfte sind in zwei Zwölf-Stunden-Schichten bei ihr. Hinzu kommt neuerdings noch eine speziell geschulte Security-Kraft, weil die Jugendliche die Pflegekräfte angegriffen und damit einen Polizeieinsatz in dem Hotelzimmer provoziert hatte.
Immer wieder müsse das Mädchen nach solchen Krisensituationen kurzfristig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie, werde dort nach kurzer Zeit aber wieder entlassen, so die Stadt.
Kommune fühlt sich alleingelassen
Die Situation sei „unwürdig“ und für eine Jugendliche mit geistiger Behinderung eine zusätzliche Belastung, schreibt der Bürgermeister. Dattelner Nachbarstädte hätten ähnliche Fälle. Es gehe um ein NRW- und bundesweites Problem, schreibt Dora in dem offenen Brief. „Gleichwohl stehen wir als Kommunen am Ende in der Zuständigkeit und ohne Hilfe.“
Der LWL als zuständige Behörde unter anderem für die Eingliederungshilfe unterstütze die Jugendämter selbstverständlich auch nach einer Inobhutnahme mit aller Kraft weiter, betont die LWL-Jugend- und Schuldezernentin Birgit Westers. Im Schnitt gebe es aber pro Jahr allein im Landschaftsverband etwa zehn Fälle von jungen Menschen mit besonders herausforderndem Verhalten und zugleich einer Behinderung, für die die Suche nach einem geeigneten Angebot sich auch über einen längeren Zeitraum hinziehen könne.
LWL arbeitet an Konzept für ein Akut-Angebot
Um Lösungsansätze zu entwickeln, hat der LWL zusammen mit dem Landschaftsverband Rheinland (LVR), dem Sozialministerium und vielen weiteren Beteiligten eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Sie soll unter anderem Vorschläge zur fachlichen Arbeit und zur baulichen Gestaltung machen, wenn es um herausforderndes Verhalten und Gewaltschutz in Wohneinrichtungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung geht.
Aktuell arbeite der LWL außerdem zusammen mit einer Jugendhilfeeinrichtung des Verbandes an einem Konzept für ein konkretes Angebot für besonders herausfordernde junge Menschen, sagte Westers. Bei einem solchen Angebot in Trägerschaft des LWL komme es darauf an, schnell und unbürokratisch ein Angebot im Einzelfall realisieren zu können.
Die Unterstützung des Laumann-Ministeriums dürfte der LWL dabei haben. Der Minister sei von der schwierigen Situation des Mädchens „sehr bewegt“, teilte eine Sprecherin mit. Das NRW-Ministerium setze sich über konkrete Einzelfälle hinaus für den systematischen Aufbau von neuen Wohnkapazitäten für diese Zielgruppen ein.
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