Ein Blick in die Vergangenheit „Es war kaum zu begreifen“: Wuppertalerin Marlis Ottos erinnert sich an das Kriegsende 1945

Wuppertal · Am 15. April 1945 endete mit dem Einmarsch der Amerikaner der Zweite Weltkrieg in Wuppertal – WZ-Leser erinnern sich.

In Wuppertal wurden durch den Krieg fast 40 Prozent der Häuser zerstört. Hier eine Aufnahme des Bahnhofs Elberfeld von 1943/44.

Foto: Stadtarchiv

Marlis Otto, geborene Wilhelm (99), lebte zu Kriegsende am Boltenberg, heute in Neu-Isenburg in der Nähe von Frankfurt. Sie hat ihre Lebenserinnerungen für ein Frankfurter Museum aufgeschrieben. Der WZ hat sie erlaubt, einen Auszug über das Kriegende zu veröffentlichen. Sie war damals 19 Jahre alt und im Arbeitsdienst Funkerin in Siegen.

Im Jahr 1945 war·ein besonders sonniger Frühling. Die Front rückte immer näher. In den ersten Apriltagen kamen plötzlich die Funksprüche nicht mehr verschlüsselt, sondern im Klartext an – zum Verschlüsseln blieb keine Zeit mehr, die Kanonenschüsse des Feindes waren schon zu hören. lch bekam den Marschbefehl, mich mit zehn weiteren Arbeitsmaiden auf den Weg zur lnsel Schiermonnikoog zu begeben. Dort musste es wohl noch eine kleine letzte deutsche Einheit gegeben haben.

Alle hatten wir schon geahnt, dass der Krieg bald zu Ende sein würde. lch hatte mir aus einem Kopfkissenbezug einen Rucksack genäht. Fast alle hatten schon versucht, eine Möglichkeit für den Weg nach Hause zu finden. Wir suchten zu zweit irgendein Gefährt, das uns aus dem eingekesselten Siegen Richtung Norden mitnahm.

Ein offener Kohlenlaster hielt schließlich an, wir durften auf die schwarze Ladefläche klettern. Unter Artilleriebeschuss erreichten wir nach gefühlt endloser Zeit Wipperfürth. Dort hatten wir großes Glück – ein Milchautofahrer hatte Mitleid und nahm uns mit nach Wuppertal-Barmen. Dort fuhr tatsächlich noch die Schwebebahn! Zwar nur noch ab und zu hin und her zwischen den Endstationen Barmen und Vohwinkel, viele der Bahnhöfe waren zerstört.

Mein Vater arbeitete in einem Büro in Elberfeld. Die Freude und die Erleichterung waren unbeschreiblich! Mein Vater rief dann meine Mutter an. Meine Mutter hat sich gleich mit meinem kleinen Bruder auf den Weg zur Schwebebahn in Sonnborn gemacht, und dort war die Freude unermesslich, als wir uns alle in die Arme schließen konnten. Am nächsten Tag war mein erster Gang·zur örtlichen Standortkommandantur. Der Kommandant dort war nicht nur sehr alt und weise, er war ein Mensch: Er strich das ursprüngliche Ziel, die lnsel, durch und schrieb den für uns lebenswichtigen Vermerk in unsere Wehrpässe: „Zur Zeit nicht weiterleitbar.“ Es waren ja die letzten Kriegstage, und auch dann noch konnte jeder „Fahnenflüchtige“ sofort erschossen werden. Außerdem gab es dort die notwendigen Lebensmittelkarten.

Die letzten Kriegstage erlebte ich in meinem Elternhaus. Ein Rest vom versprengten „Wehrmachtsstab Model“, wenige Soldaten und zwei junge Offiziere, hatten Unterkunft und Schutz in unserem Haus gesucht und gefunden. Die wenigen Soldaten – anscheinend die Belegschaft der Schreibstube – hatten sich in unserer Waschküche einquartiert, die beiden Offiziere konnten im Esszimmer der Großeltern bleiben. Sie hatten eigenen Proviant gerettet, denn auf Gäste war damals wohl keiner vorbereitet.

Von unsere „Gästen“ erfuhren wir dann auch, dass der Feind schon am nächsten Tag zu erwarten sei. Unser Großvater holte die letzte Flasche Wein aus dem Kohlenkeller (wo er sie für diesen Tag aufbewahrt und vergraben hatte). Die ganze Familie versammelte sich an diesem Abend im großelterlichen Esszimmer mit den Soldaten. Einer der jungen Leutnants setzte sich ans Klavier, und zu klassischer Musik wurde der Wein an alle verteilt – auch mein kleiner neunjähriger Bruder bekam ein winziges Schlückchen. Viel geredet wurde nicht, aber alle haben geweint und versucht, sich gegenseitig zu trösten. Die Freude, dass der Krieg wohl endlich zu Ende sein würde, hatte noch keinen Raum.

Es war kaum zu begreifen, dass nun alles Leid, alle Not, alle Angst zu Ende sein sollte. Aber so war es nicht. Es herrschte eine Leere – eine totale Ungewissheit – was bringt uns die Zukunft? Gibt es überhaupt eine Zukunft? Denn weiter gab es weder „Hülle noch Fülle“, es gab wohl die Stille aus dem Luftraum, es gab aber weiter kaum Lebensmittel trotz Karten, auch in Geschäften gab es so gut wie nichts zu kaufen.

Am nächsten Morgen – es war wieder wunderschönes Frühlingswetter – hörten wir ein ungewohntes lautes Geräusch, ein bedrohliches Rasseln: Die ersten amerikanischen Panzer, begleitet von amerikanischen Soldaten zu Fuß, fuhren langsam unsere Straße entlang. Hielten vor den Häusern, die Soldaten betraten jeweils zu zweit jedes Haus, zwar schwerbewaffnet, aber in aller Ruhe – und anscheinend sogar friedlich. Unsere „Gäste“ hatten sich vor dem Zaun unseres Vorgartens auf dem Bürgersteig mit ihren Waffen und mit erhobenen Händen aufgestellt.

Ohne Aufregung gaben sie die Waffen ab und folgten den „Eroberern“ ebenso friedlich, nicht ohne uns noch einmal zu umarmen und sich zu bedanken… Alles spielte sich wie einstudiert in aller Ruhe ab – wir hatten natürlich alles vom Fenster, Balkon oder auch vor dem Haus verfolgt. Das war also das Ende vom Krieg.

Als der rasselnde Panzer und die sie auf ihren leisen Stiefeln begleitenden Gls um die Ecke unserer Straße abgebogen waren, kam unsere Familie wieder im Esszimmer der Großeltern zusammen, sprachlos zuerst und wir alle konnten nur weinen und uns gegenseitig in die Arme nehmen und zu trösten versuchen. lrgendwie fühlten wir uns leer – und als ob uns allen eine Riesenlast von der Seele genommen wäre.

Die Kontrolle der Amerikaner, die natürlich auch unser Haus vom Keller bis zum Dach inspiziert hatten, war auch ganz ruhig verlaufen. lch sollte einen der Soldaten durch unser Haus begleiten. Als er die Tür meiner Dachstube öffnete und fragte: „It‘s your room?“ und ich mit „yes“ antwortete, machte er die Tür gleich wieder zu.

Und im Wohnzimmer meiner Eltern, an dessen Wand ein recht großes Porträt von Hindenburg hing, fragte er: „Your grandfather?“ lch sagte wieder nur „yes“, und er war zufrieden. Denn kurz zuvor hatte er in unsere Küche geschaut, da saß nämlich mein fast 90-jähriger Großvater mütterlicherseits (er lebte seit Monaten bei uns, war total ausgebombt worden)·und er sah mit seinem weißen Haar und Schnurrbart tatsächlich dem Bild recht ähnlich.

Die ersten Wochen nach dem Kriegsende sind in meiner Erinnerung sehr unwirklich und verschwommen. Niemand wusste so recht, wie es nun weitergehen könnte. Die Schulen waren noch geschlossen, Turnhallen mit „Fremdarbeitern“ belegt, öffentliches Leben fand noch nicht statt. Jeder versuchte, so gut wie möglich, den normalen Alltag zu meistern.

Erst allmählich machte ich mir Gedanken über eine Zukunft – ein festes Ziel schien mir unmöglich. Das Wichtigste war wohl damals, am Abend froh zu sein, dass man den Tag satt und einigermaßen zufrieden beenden konnte.

(Red)