Gefühle unter der Lupe
Im Theater am Engelsgarten feierte Maxim Gorkijs „Kinder der Sonne“ in der Regie von Helene Vogel Premiere.
Wuppertal. Hier stimmt etwas nicht. Ein aquariumartiger Wintergarten beherrscht die Bühne. Trotz grüner Pflanzen wirken die Sessel wenig einladend. Graue Farben herrschen vor. So wie die Kleidung der Bewohner zwar gediegen, aber leicht angestaubt wirkt. Helene Vogel zeigte am Freitag ihre bemerkenswerte Inszenierung mit großartigen schauspielerischen Leistungen von Maxim Gorkijs„Kinder der Sonne“ im Theater am Engelsgarten.
Wie in einem Guckkasten kreist die Drehbühne und bietet stets eine neue Sicht auf das immer Gleiche. Das Publikum dient als Beobachter in einem Laborversuch: ein Experiment, das das Scheitern der Intellektuellen in einer Krise aufzeigt.
Tatsächlich ist Hauptfigur Pawel ein permanent experimentierender Chemiker. Pawel (Alexander Peiler) ist ganz auf seine Forschung fixiert, blind für das, was um ihn herum geschieht. Seine vernachlässigte, aber lebenslustige Frau Lena (Tinka Fürst) bandelt mit dem lebensuntüchtigen Künstler Dimitrij (Lukas Mundas) an. Es wird über Arbeit und Leben, über Schönheit und Bildung schwadroniert, während in der Außenwelt eine Epidemie anfängt zu wüten. Euphorisch verkündet Pawel: „Wir sind die Kinder der Sonne.“ Sonne als Licht des Wissens. Aber es bleibt bei schönen Worten ohne Taten.
Zur Außenwelt gehört der brutale Schlosser Jegor (Marian Christopher Reinhardt). Solange er nützlich ist, darf er ins Haus. Als er Hilfe sucht, muss er draußen bleiben. Von außen kommt auch der Makler Nasar. Gierig nach Geld und geil auf das Hausmädchen verkörpert hier Miko Greza die neue Zeit. Einzig Tierarzt Boris und Pawels Schwester Lisa durchschauen den verbalen Mummenschanz: dankbare und intensive Rollen für Stefan Walz und Philippine Pachl.
Boris versteckt sich hinter Ironie und Zynismus. „Sie sagen, ich muss den Menschen lieben.“ Aber dieser ist eben einfach nur ekelig. Hellsichtig ist die scheinbar seelisch kranke Lisa: „Ihr seid so weit weg von den einfachen Menschen. Sie werden euch dafür irgendwann hassen.“ Aber auch die beiden sind handlungsunfähig: Sie fliehen. Lisa verlässt das Haus, Boris hängt sich auf — streckt der Welt die Zunge aus dem blauen Gesicht heraus.
Dann ist da noch Boris’ Schwester Melanija (Julia Reznik). Für eine reiche Heirat hat sie ihr Leben verraten und versucht, die Leere mit der Liebe zu Pawel zu füllen. Überhaupt wird sich viel kindisch und hoffnungslos verliebt. Das häusliche Panoptikum wird ergänzt durch das dumm-dreiste Dienstmädchen Fima (Ann-Kristin Lutz) und die altmodische, ordnungsliebende Kinderfrau Antonowna (Lilay Huser). Pawel: „Nur im intellektuellen Bereich ist der Mensch frei, und er ist nur ein Mensch, wenn er seinen Verstand und seine Vernunft einsetzt.“ Gorkij hält dagegen: „Der erste Tag der Revolution war der Tag des moralischen Zusammenbruchs der Intelligenz.“ Das Experiment liefert den Beweis: Als der Aufstand der Außenwelt losbricht, greift Lena zur Pistole, um auf die theoretisch geliebte Menschheit zu schießen. Beängstigend aktuell.