Historie: Nordbahntrasse - Schüler, Panzer und Monteure

Vom Vorzeige-Projekt regionaler Investoren zum vergessenen Nebengleis: Wie die Rheinische Strecke wurde, was sie ist.

Wuppertal. 16 Tage! Den ehrwürdigen Herren in den Handelskammern von Barmen und Elberfeld wurden beim Gedanken an diese Zeitspanne die gestärkten Hemdkragen eng. 16 geschlagene Tage, so hat es Heimatforscher Detlef Schmitz ermittelt, dauerte es um 1870, bis ein Ballen Elberfelder Stoff per Bahn von der Hofaue nach Düsseldorf transportiert war. Die Handelskammern sahen Handlungsbedarf - und trommelten für eine weitere Eisenbahnlinie in den Wupperstädten. Neun Jahre später wurde diese eröffnet: die Rheinische Strecke über die Wuppertaler Nordhöhen, die heutige Nordbahntrasse.

Erbaut hatte diese Strecke die Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft (REG), eine private Aktiengesellschaft. Eisenbahnbau, das war im 19. Jahrhundert noch keine Sache des Staates, sondern ein Wettrennen von Investoren, die in dieser Zukunftstechnologie ihre Pfründe abstecken wollten. Das Problem: Die REG war im Wuppertal klar zweiter Sieger hinter einem seit Jahrzehnten ansässigen Platzhirsch. Denn durch das Wuppertal führte seit 1841 bereits die Strecke der Bergisch-Märkischen Eisenbahngesellschaft (BME) - eine der ersten Strecken in Westdeutschland, auf der auch heute noch die Züge durchs Tal rauschen. Warum also eine weitere Bahn für die Wupperstädte?

Der eine Grund war ein technisches Problem: Bei Hochdahl mussten die Züge auf der Strecke der BME eine Steigung von 33 Promille überwinden - für Züge der damaligen Zeit eine wahre Steilwand, die zu überwinden sehr viel Zeit kostete. Der zweite war der Wettbewerbs-Gedanke: Die REG wollte im boomenden Bergischen Land einfach einen Fuß in die Tür bekommen. Lutz Eßrich, gewissermaßen Haushistoriker der Wuppertalbewegung, bringt es auf den Punkt: "Die Rheinische Strecke war von Anfang an ein Prestige-Objekt."

Und ein solches ließ sich die REG etwas kosten. Sechs Jahre lang baute die Gesellschaft ab 1873 an der Strecke, die von Düsseldorf bis Dortmund-Hörde führen sollte. Weil das Gelände auf den Nordhöhen so unwegsam war, explodierten die Baukosten. Schließlich zogen die Aktionäre die Notbremse - teure Vorzeigeprojekte wie etwa ein schlossartiger Bahnhof Mirke mit drei Wartesälen und 65 Hotelzimmern (!) wurden zugunsten kostengünstigerer Varianten gestrichen.

So war es eine doppelte Hypothek, mit der seit 1879 die Züge auf der Nordstrecke durch Wuppertal rollten: die zweite Geige hinter einer etablierten Strecke, gebaut in einer unwegsamen Landschaft, die ihrer Entwicklung enge Grenzen setzte. So wundert es kaum, dass die Rheinische Strecke in punkto Personenverkehr stets hinter ihrem südlichen Pendant zurückblieb. Lutz Eßrich: "Die Strecke der BME ging durch die Zentren des Wuppertals, die Rheinische Strecke durch die Peripherie. Und in Barmen liegen die Strecken 350 Meter auseinander - was für einen Sinn soll es da machen, die Alternativ-Strecke zu nehmen?"

Sehr wichtig für Wuppertal wurde die Trasse allerdings im Bereich des Güterverkehrs (siehe Kasten). Geradezu legendär ist etwa der Gleisanschluss der Firma Luhns an die Rheinische Strecke, mit dessen Hilfe Züge jahrzehntelang direkt in den vierten Stock der Fabrikhalle an der Schwarzbach hineinfahren konnten - verursacht durch den Höhenunterschied zwischen dem Wichlinghauser Bahnhofs-Plateau und dem Schwarzbach-Tal.

Zwischen 1901 und 1976 wurden mit Hilfe des Anschlusses 2,6 Millionen Tonnen Güter allein bei Luhns umgeschlagen - so eine Aufstellung des Unternehmens. Auch die Liste der Firmen, die sich teilweise auch oder gar vor allem wegen des Gleis-Anschlusses im Barmer und Elberfelder Norden ansiedelten - von der Genossenschaft Vorwärts über Knappersbusch bis zu Huppertsberg. Lutz Eßrich betont deshalb: "Die Rheinische Strecke hat ganze Stadtviertel geprägt."

Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte die Deutsche Bundesbahn sogar noch einmal, der Strecke im Personenverkehr neues Leben einzuhauchen. 1953/54 kamen zu den bestehenden sechs Bahnhöfen vier neue Haltepunkte hinzu - Lüntenbeck, Rott, Dorp und Ostersbaum. Sie sollten die Strecke zu einer Art nördlicher S-Bahn für Wuppertal machen. Doch vergeblich - der aufkommende Autoverkehr machte das innerstädtische Bahnfahren immer unattraktiver, sodass auch die neuen Haltepunkte der Rheinischen Strecke nicht den erhofften Fahrgast-Schub brachte.

Immerhin: Beliebt blieb die Strecke mit ihren Schienenbussen über Jahre bei Schülern der zahlreichen an der Trasse liegenden Schulen - vom Schulzentrum Ost bis zum Gymnasium Bayreuther Straße. Und bei älteren Eisenbahnern erzählt man sich, dass der Takt der Schienenbusse auf der Strecke jahrelang mit dem Betriebsrat von FAG abgestimmt wurde - so viele Mitarbeiter der Varresbecker Firma pendelten über die Nordhöhen. Viel genutzt wurde die Nordbahn im Kalten Krieg übrigens vom Militär - weil sie nicht zu überlastet war, konnte man hier bequem Gleise sperren, um lange, überbreite Panzer-Transport-Züge abzuwickeln.

Doch die Allianz aus Schülern, Unternehmern, FAG-Monteuren und Militärs konnte den Abstieg der Strecke zum Nebengleis nicht verhindern - zumal immer wieder erwogene Anläufe zu einer Elektrifizierung der Strecke an den immensen Kosten scheiterten. Am 21.September 1991 rollte, nur von milden Protesten begleitet, der letzte reguläre Personen-Schienenbus zwischen Wichlinghausen und Vohwinkel. Acht Jahre später folgte der letzte Güterzug - und dann begann er, der bis heute dauernde Dörnröschenschlaf der Strecke, die als Vorzeige-Projekt einst mit so großen Hoffnungen geplant worden war.

Rheinische Eisenbahn Gesellschaft Die REG wurde 1831 vonKaufleuten und Bankiers um Ludolf Camphausen gegründet. Noch in derFrühphase stieß als weiterer prominenter Finanzier Abraham Oppenheimdazu. Die Gesellschaft betrieb Strecken im Rhein-Ruhr-Raum bis zurNordsee. 1880 wurde sie verstaatlicht.

Bergisch-Märkische Eisenbahn-Gesellschaft In der BME gingauch die Düsseldorf-Elberfelder Eisenbahn auf, die 1841 die erstenGleise ins Wuppertal gelegt hatte. Sitz der Gesellschaft war Elberfeld,einer ihrer führenden Köpfe der Bankier und preußische Minister Augustvon der Heydt.

Trasse Die eigentliche Rheinische Strecke führte vonDüsseldorf nach Dortmund-Hörde. Auf Wuppertaler Stadtgebiet verlief sievon Dornap bis Wichlinghausen und dann weiter Richtung Schwelm-Loh. DerStreckenast der heutigen Nordbahntrasse von Wichlinghausen überNächstebreck Richtung Schee und Hattingen gehörte dagegen zur 1884eröffneten Kohlenbahn.

Bahnhöfe Dornap, Varresbeck, Ottenbruch, Mirke, Loh,Heubruch, Wichlinghausen, dazu seit 1953 die Haltepunkte Lüntenbeck,Dorp, Ostersbaum und Rott.

Güterverkehr I Neben Luhns, das es bereits seit 1870 gibt unddas erheblich vom Güteranschluss profitierte, siedelten sich späterviele weitere Firmen an der Trasse an. Die Genossenschaft Vorwärts ander Münzstraße hatte ebenso ihren Gleisanschluss (in den Keller) wiespäter der große Nachfolger Vorwärts-Befreigung auf Clausen (dank einesNebengleises). Auch der Barmer Schlachthof, die BrennereiKnappertsbusch, die Huppertsberg-Fabrik, Frowein oder Vorwerk und Co.nutzten die Rheinische Strecke - ganz zu schweigen von vielenKalkwerken in Elberfeld und Dornap sowie 36Ziegelei-Betrieben.

Güterverkehr II Ebenfalls an die Trasse angeschlossen war dieKleinbahn Loh-Hatzfeld, die von 1894 bis 1980 für eine erheblicheEntwicklung der Hatzfelder Gewerbegebiete sorgte.

Elektrifizierung Der letzte Versuch wurde Ende der 1970erJahre unternommen, als die Trasse infolge der Nato-Nachrüstung nocheinmal als Transportstrecke ins Visier der Militärs rückte. Sie wäreaber einfach zu teuer gewesen - unter anderem hätte man für denFahrdraht das Bodenniveau sämtlicher sieben Tunnel absenken müssen.

Informationen I Nutzer der Nordbahntrasse sollen nach derFertigstellung des Radweges über die Geschichte der Strecke informiertwerden. Ein Arbeitskreis von Historischem Zentrum, Wuppertal Bewegungund Bahn-Experten erarbeitet dazu bis zu 100 Info-Tafeln, die an derTrasse aufgestellt werden sollen.

Informationen II Mehr Infos über die Trasse enthält eineumfangreiche Dokumentation des Arbeitskreises Bahnen Wuppertal imInternet. Ihr sind einige Fotos und viele Fakten entnommen.